Auge und Ohr

Tatsächlich stimmen γιγνωσκειν und συνιεναι darin überein, daß beide vom bloßen Berührtsein der Sinne durch den Klang oder durch den Augenschein zu einem geistigen Erfassen vordringen. Diese Wege sind aber nicht zufällig dadurch verschieden, daß das eine Wort von der Wahrnehmung durch das Auge, das andere von der Wahrnehmung durch das Ohr ausgeht, und γιγνωσκειν stärker eine Aktivität, συνιεναι mehr eine rezeptive Haltung und eine Fähigkeit bezeichnet, die der ursprüngliche Bedeutung des Folgens entspricht. γιγνωσκειν hieß, das Wesen der Dinge dadurch zu erkennen, daß man die wechselnden Erscheinungen der objektiv gegebenen Welt rational ordnete. Die Bedeutung der Dinge wird aber nicht verstanden, indem das Was der Dinge erkannt wird (dadurch werden nur die Beziehungen der Dinge in der Außenwelt zueinander erklärt). Ihre Bedeutung wird nur verstanden durch ihre Beziehung zum menschlichen Geist. Und diese Beziehung zum menschlichen Geist ist durch συνιεναι deswegen gegeben, weil es von der Wahrnehmung durch das Ohr ausgeht. Dessen Objekt ist menschliche vernünftige Rede, während das Auge auf die Gegenstände des Raumes gerichtet ist, deren Ordnung es erkennt. Um die Welt auch zu verstehen, muß man sie als Träger eines vernünftigen Sinnes, gewissermaßen als sprechenden, lehrenden Menschen annehmen, dem es zu folgen gilt.

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(Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, S. 48-9).