Nietzsche als Immunologe

Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transformation der Metaphysik in Allgemeine Immunologie — ein Ereignis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heute gescheitert sind. Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu erklärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheueren — Heidegger sagt: In-der-Welt — sichern muß, selbst um den Preis monströser Bündnisse.

(...). Rückwirkend ließ sich nun auch darlegen, was die Menschen bei ihren frühesten »religiösen« Handlungen bewegte. Diese vollzogen an erster Stelle diplomatische Prozeduren, um Allianzen gegen Schadensmächte zu schließen. Sie handelten Glücksbedingungen des menschlichen Daseins mit unglückbringenden Mächten aus. Darum war stets dafür zu sorgen, daß dem Heil mehr Energie zufließt als dem Unheil: Gott ist größer. Insbesondere setzte man von alters her der größten annehmbaren Schädigung des Lebens, dem unbedingt gewissen, wahrscheinlich gewaltsamen Tod, die Möglichkeit einer Rückversicherung in einem unzerstörbaren Leben entgegen. Um dergleichen versprechen zu können, lag es nahe, sich mit einem todüberwindenden Prinzip zu verbünden. Diese Allianzpraxis tauchte unter zahllosen Deklinationen in nahezu allen Kulturen auf.

(...). Bei Nietzsche, der in der Explikation dieser Phänomene einen Schritt vorangegangen war, heißt die Prozedur der Infinitisierung: Impfung mit dem Wahnsinn. Deren Sinn lag für ihn allerdings nicht nur in der Absicherung gegen Lebensrisiken, sie bezweckte darüber hinaus die Erhöhung der Einsätze. Den Menschen mit dem Wahnsinn impfen heißt: die Einzelnen mit ihrem status quo unzufrieden machen und in ihnen eine Willensreaktion hervorrufen, dem trivialen Dasein einen nicht-trivialen Sinn zu geben.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 521,522,523).