Das bedeutet im übrigen, daß die vormals vielgelobte ars moriendi, die den Stoikern der Antike wie manchen mystischen Theologen des Spätmittelalters als Königsdisziplin der Ethik galt, gar nicht so sehr, wie man vermuten könnte, die Übernahme des Heroismus in die Sphäre des kontemplativen Lebens impliziert. Sie bildet vielmehr ein zentrales Kapitel der Erkenntnistheorie. Unter der platonischen Annahme, Immerwährendes und Unsterbliches werde nur durch Ebenbürtiges erkannt, erlangt die Suche nache einem hierfür geeigneten Organ in uns höchste Bedeutung. Ihr Erfolg entscheidet über die Möglichkeit von wahrer Theorie, wie sie von den Alten aufgefaßt wurde. Könnten wir ein solches Organ fürs Unvergängliche nicht schon zu Lebzeiten aktivieren, so wäre die Hoffnung auf gültige und bleibende Erkenntnis vergeblich. Besitzen wir aber ein solches, dann sollten wir uns darum bemühen, von ihm so früh wie möglich Gebrauch zu machen. Dies käme dem Versuch gleich, »im voraus« zu sterben, nicht, um länger tot zu sein, sondern um unsere latente Unsterblichkeitskompetenz offenzulegen, während wir noch in der sterblichen Hülle stecken.
Sl***
(Scheintod im Denken, S.12)