Nicht nicht üben können

Seit die Wenigen explizit üben, wird evident, daß implizit alle üben, ja mehr noch, daß der Mensch ein Lebewesen ist, das nicht nicht üben kann — wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 643).

Routinen und Trägheiten

Eine erste Aufklärung geschah, indem die sprituellen Lehrer zeigten: Der Mensch ist nicht so sehr von Dämonen besessen als von Automatismen beherrscht. Nicht böse Geister setzen ihm zu, es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu Boden drücken und deformieren. Was seine Vernunft trübt, sind nicht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungsfehler — es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 640).

Unterscheidung der Wiederholungen

Durch die radikale Absetzung der Asketen, der Heiligen, der Weisen, der übenden Philosophen und später der Artisten und Virtuosen im Daseinsmodus derer, die im Druchschnittlichen, Ungefähren, Unqualifizierten weitermachen, wird die primäre anthropologische Entdeckung bezeugt: Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholungen verdammt ist.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 639).

Reklame

Als Botschafterin neuer Vorteilsbringer ist die frühe Reklame das allgemeine Trainingsmedium der aktuellen Leistungskollektive, die man in kulturkonservativen Milieus leichtfertig als »Konsumgesellschaften« denunziert. Der Widerwille gegen die Reklame, die die gesättigten Infosphären der Gegenwart durchzieht, geht jedoch von der richtigen Intuition aus, wonach sie in ihren meisten Erscheinungsformen längst zu einem Training nach unten gehört.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 580).

Lebensergänzungsmittel

Wer sein Leben ändern will, sieht sich in einen ständig wachsenden Horizont von Lebensergänzungsmitteln und Lebenssteigerungsmitteln versetzt — sie bilden die stärksten Attraktoren in der modernen Flut der Waren, die man zu Unrecht oft allein unter dem Konsumaspekt beschreibt.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 578).

Menschenausstatter

Wir haben uns davon überzeugt, wie das Privileg, den absoluten Imperativ zu übermitteln, zu Beginn der Neuzeit den Inhabern religiöser Sprechämter entgleitet und auf eine Anzahl von säkularen Agenturen übergeht. Unter denen ragen hervor: der frühneuzeitlichen Fürst als Schirmherr der Menschenproduktion, der barocke Pädagoge als Experte der pansophischen Menschenformung und der Renaissance-Feldherr als der an der Antike geschulte Virtuose massenhafter Menschenaufstellungen im Formationskrieg. Neben sie treten im Laufe der Zeit Scharen von Beratern und Einflüsterern, die sich an ihre Mitmenschen nicht mehr als Überbringer des metanoetischen Imperativs wenden, sondern als Vermittler von praktischen Neuerungen, die eher technische Vorteile als moralische Besserungen zum Inhalt haben. Ich nenne sie die Menschenausstatter der Neuzeit.

Sie legen den Zeitgenossen nahe, ihr Leben durch Teilnahme an aktuellen Künstlichkeiten zu verändern und ihren existentiellen Tonus, nicht zuletzt ihre Wettbewerbsfähigkeit, durch neue Informationsmittel, neue Komfortmittel, neue Distinktionsmittel zu heben.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 577-8).

Mensch-Maschine

(...) jeder Zeitgenosse [ist] nun mit der Anregung konfrontiert, sich selbst als Kompositum aus dem Androiden und dem echten Menschen zu verstehen. Damit präsentiert sich die altehrwürdige Körper-Seele Unterscheidung in einem neuen Aggregatzustand. Die Hochkonjunktur der Körper-Diskurse in Europa seit zweihundert Jahren verdeutlicht diese Konstellation bis heute. Nach der Publikation von La Mettries L'Homme machine 1748 überzeugen sich die Rezipienten der physiologischen Aufklärung davon, wie es zugeht, wenn Automaten sprechen lernen und Maschinen nervös werden.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 565).

Alte und neue Weltverbesserer

Das Postulat des Allwissens erinnert an eine uns längst fremd und befremdlich gewordene Zeit, als unter Wissen noch fast ausschließlich qualitatives und in der Natur der Sachen fundiertes Wissen verstanden wurde. Es legte sich selbst als Wesenserkenntnis aus und nahm in Anspruch, die durchdringende Einsicht in die Struktur des abgerundeten Essenzenkosmos zu bieten. Es bezog sich auf eine im Prinzip vollendete, obschon phänomenal in Unordnung geratene, somit reparaturbedürftige und insofern unfertig scheinende, jedoch auch reparabele Welt. Weltverbesserer ist zu dieser Zeit, wer der Welt ihre ursprüngliche Vollkommenheit zurückgeben möchte — während heute von der Erkenntnis ausgegangen werden muß, daß jede Reparatur neue Ungleichgewichte, neue Unvollkommenheiten nach sich zieht.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 561).

Eintheilung der Facultäten überhaupt

Nach dem eingeführten Gebrauch werden sie in zwey Klassen, die der drey oberen Facultäten und die Einer untern eingetheilt. Man sieht wohl, daß bey dieser Eintheilung und Benennung nicht der Gelehrtenstand, sondern die Regierung befragt worden ist. Denn zu den oberen werden nur diejenige gezählt, deren Lehrer ob sie so oder anders beschaffen seyn, oder öffentlich vorgetragen werden sollen, es die Regierung selbst interessirt; da hingegen diejenige, welche nur das Interesse der Wissenschaft zu besorgen hat, die untere genannt wird, weil diese es mit ihren Sätzen halten mag, wie sie es gut findet. Die Regierung aber interessirt das am allermeisten, wodurch sie sich den stärksten und dauerndsten Einfluß aufs Volk verschaft und dergleichen sind die Gegenstände der oberen Facultäten.

Ka***

(Der Streit der Facultäten in drey Abschnitte, S 6-7).

List der pädagogischen Vernunft

Die List der pädagogischen Vernunft artikuliert sich darin, daß die neuzeitliche Schule ihre Zöglinge zwar nominell auf den Staat und die »Gesellschaft« hin erzieht, insgeheim aber auch, zuweilen sogar manifest, am Staat und an der »Gesellschaft« vorbei. In dem resonanzreichen deutschen Wort »Bildung« kristallisiert sich diese Verfehlung. Der Sonderstatus von »Kultur« in der modernen Konstruktion von Wirklichkeit läßt sich ohne die organisierte Abweichung der Erziehung von ihrem äußeren Zweck nicht verstehen.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 547-8).

Papier mit schwarzen Flecken darauf

Eine der hauptgründe für die subjektivistische Analyse der Erkenntnis ist das Gefühl, daß ein Buch ohne einen Leser nichts ist: Erst wenn es verstanden ist, wird es eigentlich ein Buch, sonst ist es bloß Papier mit schwarzen Flecken darauf.

Diese Auffassung ist in vieler Hinsicht falsch. Ein Wespennest ist ein Wespennest, auch nachdem es verlassen worden ist und auch wenn es nie wieder von Wespen als Nest benutzt wird. Ein Vogelnest ist ein Vogelnest, auch wenn es nie bewohnt wurde. Ähnlich bleibt ein Buch ein Buch — eine bestimmte Art von Erzeugnis — auch wenn es nie gelesen wird (was heutzutage leicht vorkommen kann).

P***

(Objektive Erkenntnis, S. 118).

Erkenntnis ohne einem Erkennenden

[es] gibt zwei verschiedene Bedeutungen von Erkenntnis oder Denken: (1) Erkenntnis oder Denken im subjektiven Sinne: ein Geistes- oder Bewußtseinszustand oder eine Verhaltens- oder Reaktionsdisposition und (2) Erkenntnis oder Denken im objektiven Sinne: Probleme, Theorien und Argumente als solche. Erkenntnis in diesem objektiven Sinne ist völlig unabhängig von irgend jemandes Erkenntnisanspruch, ebenso von jeglichem Glauben oder jeglicher Disposition, zuzustimmen, zu behaupten oder zu handeln. Erkenntnis im objektiven Sinne ist Erkenntnis ohne einem Erkennenden: es ist Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt.

P***

(Objektive Erkenntnis, S. 112).

Kulturpathologische Reaktionsbildungen

Wie der modernen Bevölkerungspolitik die Feinabstimmung ihrer demographischen Instrumente mißlingt, so mißlingt der etatisierten Pädagogik die Feinabstimmung ihrer Erziehungsmaßnahmen. Aufgrund der Eigenlogik der Schule wird die moderne Kultur von riesigen Überschüssen nicht anschlußfähiger Idealismen überschwemmt — Personalismus, Humanismus, Utopismus, Moralismus sind ihre offizielle Ausprägungen. Dieses Zuviel provoziert eine Serie von kulturpathologischen Reaktionsbildungen — von Eskapismus und innerem Rückzug bis zu Romantizismus, Revoltismus und Immoralismus.

Sl*** (Du mußt dein Leben ändern, S 549).

Überproduktion

<...> entwickelt sich die frühmoderne Schule zur Ambitionszelle der zu verändernden Welt, ja zum Inkubator aller späterer »Revolutionen«. Sie will nicht nur die bessere Welt in der schlechten vorbereiten, sie möchte die Welt insgesamt auf die bessere Seite ziehen, und zwar durch die Produktion von Absolventen, die für die Welt, wie sie ist, zu gut sind. Die Schule muß der Ort werden, an dem die Anpassung des Menschen an die schlechte Wirklichkeit hintertrieben wird. Eine zweite Überproduktion soll die Schäden der ersten wiedergutmachen.

Sl*** (Du mußt dein Leben ändern, S 547).

Menschenverbesserung en masse

Aus dem Aufbruch des modernen Staats zur Menschenproduktion emergiert durch das Dazwischentreten der Erzieher die wirkungsmächtigste Idee des vergangen halben Jahrtausends: Die Vorstellung der Weltverbesserung trat auf den Plan, als die barocke Schule den Auftrag annahm, die Humankatastrophe abzuwehren, die der frühmoderne Staat durch seine Politik der zügellosen Menschenproduktion auslöste. Weltverbesserung bedeutet in dieser Situation: Menschenverbesserung en masse.

Sl*** (Du mußt dein Leben ändern, S 546).

Staatsherrschaft

Tatsächlich ist der Staat der vorklassischen wie des klassischen Zeitalters, und er vor allem, ein lebenmachender Staat, und zwar aus dem so einfachen wie fatalen Grund, daß er, als merkantiler Staat, als Steuerstaat, als Infrastrukturstaat und als Staat der stehenden Heere, eine Form von Souveränität anstrebt, die bereits die Entdeckung des demographischen Massengesetzes zur Voraussetzung hat: Demgemäß bedeutet Macht in ihrer jüngeren Deklinationsform vor allem Herrschaft über die größtmögliche Zahl von Untertanen — wobei der Untertan im Rahmen der expandierenden Eigentumsökonomie schon durchwegs als nicht-sklavische Arbeitskraft, als ein Regungszentrum von Wertschöpfung und als besteuerbare Eigennutz-Zentrale konzipiert wird.

Sl*** (Du mußt dein Leben ändern, S. 535).

Ära der Technik und der Selbsterklärung

Wer verstehen möchte, wieso die Neuzeit sich als die Ära der Technik und zugleich der anthropologischen Selbsterklärung erwies, muß auf die Tatsache achten, daß das sozialgeschichtliche oder besser: lebensstilgeschichtliche Hauptereignis dieser Epoche in der Transformation der »Gesellschaften« in übende Verbände, in stressgesteuerte Mobilmachungsgruppen und integrale Trainingslager besteht — die Ausdifferenzierung der Teilsysteme übergreifend.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 529).

Nietzsche als Immunologe

Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transformation der Metaphysik in Allgemeine Immunologie — ein Ereignis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heute gescheitert sind. Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu erklärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheueren — Heidegger sagt: In-der-Welt — sichern muß, selbst um den Preis monströser Bündnisse.

(...). Rückwirkend ließ sich nun auch darlegen, was die Menschen bei ihren frühesten »religiösen« Handlungen bewegte. Diese vollzogen an erster Stelle diplomatische Prozeduren, um Allianzen gegen Schadensmächte zu schließen. Sie handelten Glücksbedingungen des menschlichen Daseins mit unglückbringenden Mächten aus. Darum war stets dafür zu sorgen, daß dem Heil mehr Energie zufließt als dem Unheil: Gott ist größer. Insbesondere setzte man von alters her der größten annehmbaren Schädigung des Lebens, dem unbedingt gewissen, wahrscheinlich gewaltsamen Tod, die Möglichkeit einer Rückversicherung in einem unzerstörbaren Leben entgegen. Um dergleichen versprechen zu können, lag es nahe, sich mit einem todüberwindenden Prinzip zu verbünden. Diese Allianzpraxis tauchte unter zahllosen Deklinationen in nahezu allen Kulturen auf.

(...). Bei Nietzsche, der in der Explikation dieser Phänomene einen Schritt vorangegangen war, heißt die Prozedur der Infinitisierung: Impfung mit dem Wahnsinn. Deren Sinn lag für ihn allerdings nicht nur in der Absicherung gegen Lebensrisiken, sie bezweckte darüber hinaus die Erhöhung der Einsätze. Den Menschen mit dem Wahnsinn impfen heißt: die Einzelnen mit ihrem status quo unzufrieden machen und in ihnen eine Willensreaktion hervorrufen, dem trivialen Dasein einen nicht-trivialen Sinn zu geben.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 521,522,523).

Jeder ein Anthropologe

Niemand soll noch Mensch sein können, ohne zugleich Anthropologe, ja Anthropotechniker zu werden. Diese Titel erhält, wer für seine Form und Erscheinung Verantwortung übernimmt. Der anthropologische Merksatz, wonach der Mensch nicht einfach lebt, sondern sein Leben »zu führen hat«, übersetzt sich am Ende des 20. Jahrhunderts in die aus allen Medien tönende Forderung, aus dem eigenen Ich ein Projekt und aus dem Projekt ein Unternehmen zu machen, Selbstkonkursverwaltung inklusive.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 517).