Die Verwindung

Der Brauch als der Fug des »Un« ist die Verwindung, das zwingende Lassen des Anwesens in sein Wesen: in die jeweilige Weile. Die Verwindung läßt die Weile in ihrem eigenen Wesen verweilen, welches Weilen jedoch darin beruht, der Übergang zu sein. Das Weilen ist daher gerade nicht und nie das »Bleiben« im Sinne des Andauerns. Das Anwesen ist weder bloßes Stehen noch bloßes Gehen. Die Verwindung von Entstehen und Entgehen in die Fuge der Weile bewahrt davor, daß die Weile ihrem eigenen Wesen sich entwindet, zu welcher Entwindung die Möglichkeit im Wesen der Weile selbst liegt.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 175.

Un-fug

Wie aber fügt sich das Eigentliche der Weile aus dem Fug? Was erfügt da eigentlich der Fug, wenn er, Entstehen und Entgehen in ihre Fuge fügend, die Weile und die Zögerung verfügt? Der Brauch erfügt fügend die Weile, die Fuge des Überstehens von Entstehen in Entgehen als die Fuge des Übergehens von Entgehen aus Entstehen. Der Brauch erfügt als der Fug des »Un« und ist so der Un-fug.

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Der Spruch des Anaximander, S. 172.

Das Anwesende zögert

Anwesendes verweilt. Es hält sich auf in der Weile. Es bleibt im Erscheinen. Aber es bleibt darin nicht stehen, um sich darin einzunisten. Es überspringt aber auch das Erscheinen nicht. Es hält sich nur auf, d.h. es verzögert sich. Es hält sich in einer Zögerung. Diese ist das Überstehen, als welches das Entstehen übersteht in das Entgehen. Das Überstehen ist das Übergehen, als welches das Entgehen übergeht aus Entstehen. Die Zögerung zögert mit dem Gang als entgehendem Entstehen, welches Entgehen schon west im Hervorgehen in die Ankunft als dem entstehenden Entgehen. Verweilt in die Weile zögert das Anwesende in ihr und weilt so in die offene Weite eine Weile, seine Weile.

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Der Spruch des Anaximander, S. 171.

Das Wesende der Fügung

Anwesen ist Ent-stehen als Hervorgehen in Ankunft, welches Hervorgehen aber zugleich schon ist Entgehen aus der Ankunft in Abschied. Anwesen ist die Fuge von Entstehen »und« Engehen. Das Wesende der Fügung beruht jedoch gerade im »und«, worein Entstehen und Entgehen gefügt sind. Das »und« nennt von außen her und ungemäß die Fuge. Genau gedacht nennt das »und« die Fuge gerade nicht, unterschlägt sie vielmehr und erlaubt erst γενεσις und φθορα, aus der EInheit der Fuge herauszutreten.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 171.

Der Ruoch

Der »Ruoch« ist die Kümmerung, die Anderes je in seinem Eigenen gewähren läßt. Τισις ist der »Ruoch«. (...). Mit dem »geben von Fug und Ruoch« ist, ohne jedes Hereinspielen unsachlicher poetischer Bilder, das Zudenkende denkend und unmittelbar gesagt: das Sein, das Anwesen, das die Anwesenden »haben«, indem sie es »gehörenlassen«. Das Anwesen freilich ist kein Ding, das im Gehörenlassen nur überlassen wird, sondern das »Gehörenlassen von Fug und Ruoch« ist selbst das Anwesen.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 166.

Zweifaches Gehörenlassen

Die Anwesenden lassen gehören als Anwesende Fug, die Anwesenden lassen gehören als je jeweilige bei- und zu- und mitander Anwesende einander: τισιν. Das notwendig zweifache Gehörenlassen eignet dem Wesenden der Anwesenden, die als οντα verbal gedacht dem Anwesen als solchen gehören, nominal gedacht als je jedes Anwesende aber zugleich zueinander gehören. Das zweideutige Wesen der οντα erfüllt sich inn dem zweifach gerichteten Gehörenlassen. Dem entspricht die Zweiheit dessen, was sie in jeweils verschiedener Hinsicht »geben«: δικη και τισις.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 164.

Dem Sein nähere Worte: δικη — τισις

Denn es könnte immer die Möglichkeit bestehen, daß die alten Wörter frühzeitige Worte sind, die aus einer solchen Wesensweite des Denkens sprechen, daß sie nichts Geringeres nennen als »das Sein« selber. In diesem Falle wären auch noch die rein griechisch gedachten Bedeutungen, die »Rechtliches« und »Sittliches« meinen, schon bereichhafte Beschränkungen der wesensweiten Worte vom »Sein«. In diesem Fall wären die Worte im zweiten Satz des Spruches nicht nur keine poetischen Umschreibungen für den Naturprozeß, sondern sie wären gar noch anfänglichere, dem »Sein« nähere Worte als γενσις und φθορα.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 159.

Beschränkung des Seins

Zu der Entgegensetzung von »Sein« und »Denken« gesellten sich früh und gleich dunkel in ihrer Herkunft und in ihrem wechselweisen Zusammenhang andere. Die Einschränkungen des Seins, die sich in der Unterscheidungen aussprechen: »Sein« und »Nichtsein« (Nichts), »Sein« und »Schein«, »Sein« und »Werden«. Späteren Ursprungs sind dann die Unterscheidungen von »Sein« und »Bewußtsein«, »Sein« und »Wahrheit«,»Sein« und »Sollen« und die letzte: »Sein« und »Wert«. (...). In diesen Beschränkungen, die überdies nicht beliebig auftauchen, zeigt das Sein selber zumal sein einschränkendes Wesen und seinen Wesensreichtum; ziegt all dieses, indem es alles doch verhüllt, so daß vielleicht die Verhüllungen selber in dieses Verhüllen gehören.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 153.

φυσις

In der φυσις ist das Sein selber, das Anwesen in der bereichlosen Weite gedacht, der die ALlheit des Anwesenden zugehört. Wie anders aber sollte das Sein des Seienden gedacht werden, gesetzt, daß das Sein selber dabei dem Denken sich zuspricht, als so, daß das Sein selber in irgend einer Weise sich ins Unverborgende bringt, ohne daß doch wiederum diese Unverborgenheit des also Unverborgenen, ohne daß die Wahrheit des Seins selber schon gedacht wird. Die Wahrheit des Seins selber bleibt das anfänglich Ungedachte, weil sie das eigentlich Zu-denkende bleibt.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 151.

Der an-wesende Mensch

Der Mensch ist nicht nur auch ein Seiendes und demzufolge unter die οντα gehörig, sondern der Mensch ist ein in mehrfältiger Weise An-wesender: an-wesend zu dem, was auf ihn zu an-west, an-wesend im Zueinander seinesgleichen, an-wesend bei all dem auch noch in gewisser Weise so, wie Feld und Baum und Haus anwesen — ohne doch je in solchem An-wesen sein Wesen zu haben.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 149.

Anwesen des Todes

Ist das Äußerste des An-wesens, das wir den Tod nennen, zugleich das Innerste aller Anwesung von Anwesendem?

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 148.

Sterblich

»Sterblich«, θνητος bedeutet nicht: zufolge des Todes vergänglich, sondern: θνητος ist ein Seiendes, insofern es sterben kann. Das Tier »stirbt«, insofern es durch das Aufhören des Lebens verendet. Aber das Tier kann nicht »sterben«, gesetzt daß »sterben« heißt, auf den Tod zugehen. Dergleichen vermag nur Seiendes, dessen Sein so west, daß ihm der Tod als ankommend an-west. Nur wo der Tod an-wesend her-wartet auf ein Seiendes und wesenhaft seiner wartet, ist ein Seiendes in der Möglichkeit des Sterbens und also »sterblich«.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 147.

Der Brauch

Der reine Anspruch im Nicht-Ablassen vom Lassen, das reine Lassen als gewährendes Einbehalten, das nichts in Besitz nimmt, sondern nur einbehält, um zu lassen, nämlich um das Anwesen in sein Wesen zu entlassen, das Wesen des reinen Zwingens. Dieses ist das reine Brauchen: der Brauch.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 135.

Zwingen ohne Zwang im Nicht-Ablassen

Das Zwingen, in το χρεων gedacht, geht das Anwesen als solches an. Das Zwingen selber aber hat den Grundzug des Nicht-Ablassens. Wir fragen: wovon? Die Antwort wird lauten: von dem, was das Wesen im Anwesen erfüllt. Und was ist dies? Daß Entstehen (γενεσις) aus dem her ent-geht, in das Entgehen (φθορα) entsteht; daß aus dem Selben Entstehen gewährt ist, in welches Selbe das Entgehen einbehalten ist. Dieses gewährende Einbehalten, das die Einheit von Entstehen und Entgehen und so das Anwesen selber fügt, ist das Selbe als ein Lassen: das reine Zwingen, das einzig das Wesen des Anwesens verfügt: das Verfügen von γενεσις und φθορα in das Selbe ihres εξ ων und εις ταυτα.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 87.

Entstehen und Entgehen

Das Ent-stehen (γενεσις) hat in sich einen Zug des Ent-gehens, nämlich ein Entgehen demjenigen, dem das Entstehende, hervorgehend, entgeht. Das Ent-gehen (φθορα) hat in sich einen Zug des Entstehens, nämlich zu dem hin, in das das Entgehende hinweg-gehend zu stehen kommt. Das »Ent« bedeutet zumal das »aus einem her-vor...« und »zu einem hin-weg...«. Die γενεσις ist Ent-stehen im ersten Sinn des »Ent« und zumal Entgehen im zweiten Sinne, wobei das Wohin dieses Hin-weg... von dem Woher des Entstehens bestimmt bleibt. Die φθορα ist Entgehen im zweiten Sinne des »Ent...« und zumal Entstehen im ersten Sinne, wobei das Wofür des Hervor aus dem Wohin des Entgehens bestimmt bleibt.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 116.

Große Erkenntnis

Anaximander spricht nicht über das »Sein« des Seienden. Er spricht über das »Werden«. Doch ist damit erwiesen, daß der Spruch nicht vom »Seienden«, d.h. von dem »Anwesenden« handelt? Keineswegs. Wir erkennen vielmehr, wenn wir »Entstehen und Vergehen«, die den οντα zugesprochen sind, in den allgemeinen Begriff »Werden« zusammennehmen, daß Anaximander das »Sein« als »Werden;« denkt. Alles Sein ist Werden. Diese große Erkenntnis steht am Beginn des abendländischen Denkens.

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Der Spruch des Anaximander, S. 107.

Scheinen

Alles Anwesen als Scheinen ist bedroht, in den bloßen Anschein zu gelangen oder über diesen nicht hinaus zu gelangen. Diese Gefahr umscheint jedoch vor allem jenes Anwesende, das in seinem eigenen Wesen die Acht auf das reine Scheinen aufgeben und darauf trachten kann, das also in gewisser Weise losgebundene eigene Wesen von sich aus in das Scheinen zu stellen und sich einen Schein als Anschein zu verschaffen (εργαζησθαι).

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 87.

Das Goldene des Goldes ist verschwunden

Der Wert des Goldes bestimmt sich aus dem »Goldwert«, dessen Wertcharakter aus ganz anderen Wertungen und Schätzungen entspringt. (...). Der Wert selbst gründet sich in die Wirksamkeit des also Gewerteten als eines Zahlungsmittel. (...). Das Goldsein des Goldes ist aus einer anderen Wirklichkeit begriffen, genauer gesprochen aus dem Seienden, dessen Sein überhaupt als Wirklichkeit erfahren wird. Art und Grund des Seins als Wirklichkeit bestimmen sich nach der Weise der Wirksamkeit im Verursachen von Wirkungen, in denen sich das Seiende als das Wirkliche zur Geltung bringt und in solcher sich verfestigt und sichert. Das Goldene des Goldes ist verschwunden.

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Der Spruch des Anaximander, S. 70.
κρινεται δ'αλκα δια δαιμονας ανδρων.

»Hervor doch ins Scheinen kommt Vermögen durch Götter den Männern.«

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V. Isthmischer Ode, Vers 12.

Glanz des Goldes

Der Glanz des Goldes bringt das Edle dieses Metalls zum Scheinen. Dies bedeutet jedoch nicht nur, daß dieses Glänzen die Art ist, wie dieses Edle sich lediglich unserem »Auge« mitteilt. Vielmehr ist das reine, nicht ausgehende, sondern in sich quellende und sich in sich zurücktragende Leuchten das Edle selbst, dieser Schein ist sein Sein. »Sein« besagt nichts anderes als dieses Scheinen, das keinen bloßen »Anschein« bietet, sonder das, worinnen das Gold als Gold aufgeht und aufgehend ankommt, im Glanz ankommend als es selbst an-west. »Gold« — das ist in gewisser Weise dieses reine Anwesen selber, so daß in ihm das Seiende »seiender« ist, aber zugleich wieder in einer Art, daß das Scheinen sich gerade nicht gesondert vom Scheinenden aufdrängt, sondern ganz in es zurückgehalten bleibtd.

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Der Spruch des Anaximander, S. 68.

Das Gold

και μεγασθηνη νομισαν
χρυσον ανθρωποι περιωσιον αλλων.

»Denn auch weitwaltend erachten
das Gold die Menschen, anwesender rings um anderes alles.«

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V. Isthmischer Ode, Verse 2-3.

Neuzeitliches Anwesen

Insgleichen ist nun aber auch die Möglichkeit einer Erfassung des Seienden im Sinne der neuzeitlichen Eroberung der Natur schon eine Folge des Maßes, in dem das Sein das Seiende ankommen läßt und vorenthält. Dieses wiederum liegt an dem, ob und wie sich das Sein selbst entzieht. Vielleicht kann sich das Sein sogar dergestalt entziehen, daß es sich »dem Bewußtsein« überläßt udn sich als Gegenständlichkeit ereignet und so den Menschen zum Aufstand bringt gegen das Seiende, um es sich botmäß zu machen. Die Zeit, zu der das Anwesende in solcher Gestalt anwest, ist die Neuzeit.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 63.

Anschein des Maßlosen

Es sieht so aus, als sei, was zur Zeit, d.h. tagtäglich eben anwest, kein besonderes und deshalb überhaupt kein Maß. Das Anwesende west an oder west ab. Es west bald so an, bald anders. Der Anschein des Maßlosen, der im durchschnittlich und gleichgültig Anwesenden herrscht, ist aber die Unheimlichste, gesetzt daß die Zumessung dieses Maßlosen einmal erfahren wird.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 63.

Maß des Anwesens

Im Anwesenden ist je ein Maß zugemessen, demgemäß es anwest. Eines kann anwesender »sein« als das Andere. Das »selbe« Seiende kann bald mehr, bald weniger anwesen, und zwar nicht zufolge der Erfassung des Seienden durch den Menschen, die bald mehr, bald weniger auf das Seiende ein- und zu ihm vordrängt. Vielmehr ist umgekehrt die Möglichkeit der gemäßen Erfassung schon und nur eine Folge des Maßes, in dem das Anwesende sich in die Bracht anbringt.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 63.

Die Bracht

Das Anwesende als das Angebrachte ist die Bracht, die Pracht: das Glänzende — im Glanz sich Darbietende. Das Anwesende ist das je Angekommene, Angebrachte, das als dieses in der Pracht, im Glanz seines Aussehens steht und deshalb und nur deshalb zu einem »Ansehen« gelangen und dann im solchen stehen, solches aber auch verlieren kann.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 61.