Gründung der Ethik

Auch die vielzitierte Rückkehr der »Religion« ist nicht viel mehr als das Symptom eines Unbehagens, das auf seine Auflösung in einer luziden Formulierung wartet. In Wahrheit kann die Ethik allein in der Erfahrung des Erhabenen gründen, heute wie seit dem Beginn der Entwicklungen, die zu den ersten ethischen Sezessionen führten. (...). Allein das Erhabene ist imstande, die Überforderung aufzurichten, die Menschen Kurs aufs Unmögliche nehmen läßt.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 703).

Die globale Katastrophe

Die einzige Autorität, die heute sagen darf: »Du mußt dein Leben ändern!«, ist die globale Krise, von der seit einer Weile jeder wahrnimmt, daß sie begonnen hat, ihre Apostel auszusenden. Sie besitzt Autorität, weil sie sich auf etwas unvorstellbares beruft, von dem sie der Vorschein ist — die globale Katastrophe.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 701).

Das Erhabene

Der Satz »Du mußt dein Leben ändern!« liefert die Grundform des Rufs an alle und keinen. (...). Wer ihn ohne Abwehr vernimmt, erlebt durch ihn die Begegnung mit dem Erhabenen in einer persönlichen Adressierung. Erhaben ist, was durch Vergegenwärtigung des Überwältigenden dem Beobachter die Möglichkeit seines Untergangs im Übergroßen vor Augen stellt, dessen Vollzug jedoch bis auf weiteres aussetzt.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 701).

Du mußt dein Leben ändern!

Es gibt im Augenblick keinen Information im Weltäther, die nicht ihrer Tiefenstruktur nach auf diesen absoluten Imperativ zu beziehen wäre. Er ist der Ruf, der sich nie zu einer bloßen Tatsachenfeststellung neutralisieren läßt, er bildet den Imperativ, der durch alle Indikative hindurchwirkt. Er artikuliert das Leitwort, das die zahllosen chaotischen Informationspartikel zu einer prägnanten moralischen Gestalt anordnet. Aus ihm spricht die Sorge um das Ganze. Es läßt sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weiter gehen kann.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 699).

Distanzverlust

Die Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts hat die Erwartung nicht erfüllt, wonach der Verzicht auf eingebildete Glückseligkeiten dem physischen und tatsächlichen Glück unmittelbar zugute komme. Der Grund hierfür läßt sich an Heideggers Beschreibung des in die weltliche Situation zurückgebetteten Daseins ablesen. Der Preis für den Neubeginn der denkenden Orientierung aus der Position des In-der-Welt-Seins heißt unvermeidlich: Distanzverlust. Dessen Hauptsymptom ist die Auslieferung des Menschen an die Sorge und seine Immersion in der gelebten Situation.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 697).

Revolution der Denkungsart

Der entscheidende Schlag gegen die bloße Möglichkeit einer weltfluchtigenfähigen Existenz erfolgte jedoch nicht von der pragmatischen Seite her, sondern aus der erneuten »Revolution der Denkungsart« im frühen 20. Jahrhundert, die mit dem Auftreten des jungen Heidegger verbunden ist. Er stellte die Uhr der philosophischen Reflexion um mehr als zweiundhalbtausend Jahre zurück, als er (...) die Entscheidung traf, das philosophische Denken wieder in der Situation des Daseins als In-der-Welt-Sein beginnen zu lassen.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 695).

Das selbstreferentielle Schulwesen

Indem die Schule während der letzten Jahrzehnten ihren seit dem 17. Jahrhundert beharrlich bewiesenen Mut zur Dysfunktionalität nicht mehr aufbrachte, verwandelte sie sich in ein leeres selfish system, das sich ausschließlich an den Normen des eigenen Betriebs orientiert. Sie produziert Lehrer, die nur noch an Lehrer erinnern, Schulfächer, die nur noch an Schulfächern erinnern, Schüler, die nur noch an Schülern erinnern. (...). Da das Gesetz des Lernens durch Nachahmung nicht außer Kraft zu setzen ist, riskiert es die Schule, aus ihrer dargestellten Unwilligkeit, Vorbildlichkeit darzustellen, das Vorbild zu machen, das sich in der nächsten Generation wiederholt. Die Folge davon ist, daß in der zweiten, dritten Generation fast ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer auftreten, die bloß noch die Selbstbezüglichkeit des Unterrichts zelebrieren.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 684).

Selfishness der übrigen Teilsysteme

Die übrigen Teilsysteme sind naturgemäß viel stärker gezwungen, ihre Selfishness zu okkultieren und sich mit Hilfe von vagen holistischen Rhetoriken zu rechtfertigen. Weil sie letztlich nur »eingebettete« Experten brauchen können, bringen diese Disziplinen keine echten Wissenschaften hervor und erschweren den Übergang zum Niveau nicht-selbstbedienender Theoriebildung.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 683).

Selfishness des ökonomischen Systems

Schon die ersten liberalen wie Mandeville und Adam Smith hatten verstanden: Erst kommt die Amortisation, dann kommt die Moral. Das Industriesystem erkannte ohne Hehl seine Aufgabe darin, seinen Betreibern Profite zu bringen, damit sie ihre Kredite bedienen, neue Investitionen tätigen und Lohnkosten tragen können. Kurzum: »Soziales« läßt sich systemintern nur über Nebeneffektkalküle berücksichtigen. Das Argument, die Wirtschaft nütze der Mitwelt am meisten, wenn sie sich auf das konzentriert, was sie am besten kann, nämlich Profite erzeugen, ist durchschlagend richtig — und kommt doch über eine trübe Plausibilität nicht hinaus, weil mit dem evidenten Erfolg der einen Seite die Gegenevidenz wächst: daß die Selfishness des ökonomischen Systems über zu vielen anderen Interessen hinweggeht, ob man diese nun als die des Ganzen beschreiben möchte oder nicht.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 682-3).

Ausdifferenzierung der Teilsysteme

Ausdifferenzierung bedeutet die Etablierung strikt selbstreferentiell organisierter Strukturen innerhalb eines Teilsystems bzw. eines »Praxisfelds« — in evolutionstheoretischen Ausdrücken: die Institutionalisierung von Selfishness. (...) Das Wachstum der Leistungsfähigkeit von Teilsystemen der modernen »Gesellschaft«, gleich ob es um Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Kirche, Sport, Pädagogik oder Gesundheitswesen geht, [hängt] von der stetigen Zunahme ihrer Selbstbezüglichkeit ab, bis hin zu ihrem Einschwingen in den Zustand vollständiger selbstreferentieller Geschlossenheit.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 681).

Weder Bürger noch Persönlichkeiten

Die bürgerliche Hochkultur ist aus den Überschüssen des Schulhumanismus über den staatlichen Schulauftrag hervorgegangen. (...) Es gab seinen begabteren Zöglingen unendlich viel mehr Kulturmotive mit, als sie in ihren zivilen Funktionen je würden brauchen können. (...).

In der jüngsten Phase der Schulgeschichte hat sich die schöpferische Maladaption der klassischen Schule vielerorts in eine maligne Maladaption verkehrt, die insofern modern genannt werden darf, als sie aus einer epochentypischen Störung der Vorbildfunktionen und des damit verbundenen Verfalls des Übungsbewußtsein resultiert. In ihrer Folge nähert die Schule sich einem Punkt, an dem sie doppelt implodiert, so daß sie weder Bürger noch Persönlichkeiten hervorbringt.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 679, 680).

Der Reiz der Moderne

Mehr als jede Zivilisationsform vor ihr ist die Moderne auf eine Sortierung des Weitergabewürdigen und die Abkürzung von maladaptiven Entwicklungen angewiesen, mögen auch die nötige Warnhinweise von den Akteuren einer aktuellen Generation, die in expressiven Fehlentwicklungen schwelgt, als unterdrückerische Eingriffe wahrgenommen werden. Das Schwelgedürfen in kurzlebigen Maladaptionen macht im übrigen einen guten Teil des Reizes moderner Lebensformen aus. Es definiert ihr Aroma von Freiheit und Folgenlosigkeit. Es befreit die Gegenwart von der Last, Vorbilder zu schaffen — nicht umsonst ist die Moderne das Eldorado der Jugendbewegungen. Ihre größte Versuchung besteht darin, die Zukunft abzuschaffen unter dem Vorwand, die Zukunft zu sein.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 672-3).

Das Ende der Geschichte

Das Ende der Geschichte ist eine Metapher für die Außerkraftsetzung des im Eisernen Zeitalter herrschenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer Maßnahmen gegen die fünf Nöte. Dazu gehören: die industriepolitische Umstellung von Knappheit auf Überangebot; die Arbeitsteilung zwischen Höchstleistern und mäßig Angestrengten in Wirtschaft und Sport; die allgemeine Deregulierung der Sexualität; der Übergang zu herrenloser Massenkultur und feindloser Kooperationspolitik; die Ansätze zu einer postheroischen Thanatologie.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 670-1).

Postmetaphysisch denken und handeln

Postmetaphysisch denken und handeln heißt: mit Hilfe der Technik und ohne extreme asketische Programme über die Lasten der alten conditio humana hinausgehen.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 667).

Verblendungsbereitschaft und Lernvermeidungsoperationen

Wenn (...) die neolatrische Kultur der Moderne dem Neuen per se Bedeutung unterstellt, bewirkt das eine Aufhellung des globalen Lernklimas — der Preis hierfür ist eine historisch nie dagewesene Verblendungsbereitschaft, die Trugbildern des Neuen unbegrenzten Kredit gewährt. Im übrigen darf man selbst manifeste Dummheit nicht mehr als simples Datum nehmen: Sie wird durch ein langes Training in Lernvermeidungsoperationen erworben. Nur nach einer hartnäckig fortgesetzten Serie von Selbst-Knock-outs der Intelligenz kann sich ein Habitus zuverlässiger Stupidität stabilisieren — und sogar dieser läßt sich jederzeit durch einen Rückfall in die Nicht-Dummheit dementieren.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 644-5).

Fortlaufende Selbstwiederherstellung

Die Selbstaktivierungen von Organismen in stets von neuem durchzuspielenden Abläufen nicht-deklarierter Übungsprogramme summieren sich zu einer stummen Autopoiese: Was an den Lebewesen wie einfache Identität mit sich selbst erscheint, ist de facto das Resultat einer permanenten Selbstreproduktion dank der Bewältigung unsichtbarer Trainingsprogramme. (...)

Personale Identität liefert daher keinen Hinweis auf eine psychische Essenz oder eine träge Form, sie zeigt vielmehr die tätige Überwindung einer Zerfallswahrscheinlichkeit an. Wer mit sich selbst identisch bleibt, bestätigt sich hierdurch als ein funktionierendes Expertensystem, das auf fortlaufende Selbstwiederherstellung spezialisiert ist.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S 644-5).