Jeder ein Trainer

Wenn Dasein die persönliche Aktualisierung von Könnenschancen bedeutet, dann bewegt sich jeder immer schon einer Leiter des Mehr oder Weniger, auf der er sich durch die Ergebnisse seiner Anstrengungen selbst plaziert, ohne daß er die vor ihm Liegenden als Unterdrücker abtun könnte. Das Individuum erscheint nun eher wie ein Trainer, der die Auswahl seiner Talente betreut und die Mannschaft seiner Angewohnheiten antreibt.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 515).

»Persönlichkeit«

Die Neudeutung der menschlichen Totalitätspotenz bewirkt die Transformation der Weltflucht in die welthaltigste Seinsweise, mit welcher Individuen unseres Kulturkreises bis dahin Bekanntschaft schlossen. Aus der Anreicherung des Rückzugs zu einer Lebensform, die dem extravertierten Dasein an Fülle und Vielfalt in nichts nachsteht, geht die grenzenlos kultivierbare Selbststruktur hervor, die unter dem anthropologischen Programmwort der Neuzeit »Persönlichkeit« angesprochen wird.

Wo der Mensch selbst das Mirabile werden soll, das lebende Artificium, dem die Bewunderung der Mitwelt gilt (und das ist weit mehr als Achtung, Liebe oder Mitgefühl), kann er nicht dauerhaft in seiner weltflüchtigen Klausur verharren. Er muß sich eines Tages auf die Bühne bringen und aus der inneren Performance eine äußere machen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 512).

Moderne Weltflucht

Die Weltflucht der Neuen ist ebenso dringend motiviert wie in den Tagen des frühesten Ekels vor den Verhältnissen. Noch immer macht sie weltlich Hoffnungslosen Hoffnung, noch immer gewährt sie sozial Aussichtslosen Aussicht auf eine alternative Existenz. Nichtsdestoweniger laden sich die neueren Rückzüge häufiger mit welthaften Bedeutungen eigenen Werts und Umfangs auf, bis der Punkt erreicht ist, an dem die rezessiv ausgegrenzte Subjektivität in ihrer Selbstsorge-Enklave als eine Weltgestalt eigenen Rechts hervortritt. Aus der methodisch gesuchten Weltfremdheit erblüht eine Virtuosen-Industrie.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 510-11).

Schlachtaufstellung der Disziplinen

Man könnte geradezu von einer ursprünglichen Akkumulation eines Kapitals aus Konzentrationen, Intensitäten, Handlungsbereitschaften sprechen, das sich eines Tages nach geeigneten Anlageformen umsehen mußte. Tatsächlich gehören die Jahrhunderte nach dem Schwarzen Tod in Europa einer beispiellos neuartigen Ökonomie, bei der neue Übungsmittel — Maschinen, Werkzeuge, Medien und Gelder — neue Übungsverhältnisse hervorrufen — an erster Stelle Schulen und nochmals Schulen, dazu Ateliers, Theater, Konzertsäle, Kasernen, Fabriken, Kliniken, Zuchthäuser, Rednerkanzeln, Märkte, Versammlungsstätten, Stadien und Sportstudios.Was mit der Neuzeit beginnt, ist nichts weniger als ein neuartiges anthropotechnisches Regime im Großen, eine von Grund auf veränderte Schlachtaufstellung der Disziplinen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 507-8).

Menschheit in Serie

Die Menschheit soll jetzt in Serie gehen, um jeden Landstrich dieses Erdteils — später des Planeten — mit Individuen auf der Höhe des Menschenmöglichen zu besiedeln. Die Geduld mit den vorgefundenen Unzulänglichkeiten ist aufgebracht: Der Mensch muß aufhören, ein Gewächs des moralischen Zufalls zu sein. Wir, die ungeduldig gewordenen Selbst- und Menschenbildner der technischen Jahrhunderte, sollen und wollen nicht länger abwarten, ob dann und wann ein Einzelner sich dazu bequemt, mit seiner gewöhnlichen Existenz zu brechen und sich durch Metanoia, Askese und Studium ein zweites, ein gesteigertes, ein exemplarisches Leben zu schaffen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 496).

Chronische Höhenkrankheit

Sprechen wir aus, worin die Basisparadoxie aller Hochkultur besteht: Sie folgt aus ihrer Orientierung an hyperbolischen oder akrobatischen Exzessen, die stets under der Annahme betrachtet werden, sie seien zur Nachahmung und Normalisierung geeignet. Indem die Hochkulturen Ausnahmeleistungen zu Konventionen erheben, erzeugen sie eine pathogene Spannung, eine Art von chronischer Höhenkrankheit, auf welche die hinreichend intelligenten Teilnehmer an dem paradoxen Spiel nur noch durch die Ausbildung eines internen Ausweich- und Simulationsraums, mithin einer »Seele«, eines ba, einer psyché, eines atman, allgemeiner gesprochen einer dauerreflexiv irritierten Innenwelt antworten können.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 428-429).

Perfektionismus und Universalismus

Die Orientierung an Vollkommenheit betraf in der Frühzeit des Perfektionsmotivs ausschließlich die Lebensläufe der Weisen und der Heiligen. (...) Zur Stunde fehlt ein kritisches Referat über die gemeinsame Geschichte von Perfektionismus und Universalismus. Andeutungen hierzu sind seit zweihundert Jahren unter Tendenzbegriffen wie »Aufklärung« oder »Evolution« und in den entsprechenden großen Erzählungen in Umlauf. Kaum jemand ahnt, daß in diesen Ausdrücken anonyme Perfektionsideen weiterwirken die unter strikt individuellem, auf die Einzelseele bezogene Vorzeichen in der christianisierten Wüste erbrütet worden waren. Nur weil die Seele dort eine Geschichte hatte, konnte die Kirche, die Fähre zum Jenseits, eine analoge Geschichtlichkeit erobern. Da die Kirchengeschichte ihr Perfektionsgeheimnis nicht für sich behalten konnte, wurde es an die Weltgeschichte verraten und von der Philosophie publiziert.

Sl*** (Du mußt dein Leben ändern, S. 407-408).

Tod und Vollkommenheit

Für die Struktur des übenden und eifernden Lebens in seiner Anfangsphase ist es bezeichnend, aus beliebig weiter Entfernung von seinem Ziel-Bild ergriffen sein zu können.

Was im Anschauungsbild übereinanderliegt, wird auf die Zeitachse projiziert, wonach die Anfangerposition mit dem Jetzt, die Fortgeschrittenenposition mit dem Später und die Position der Vollkommenheit mit dem Zuletzt identifiziert werden kann. (...) Sobald es dem Übenden nicht nur um ein Handwerk oder eine Kunstlehre geht, die mit dem Erwerb der Meisterschaft abgeschlossen werden kann, sondern um die existentielle Kunst, bei der das Leben insgesamt nach Erhöhung und Verklärung strebt, rühren Tod und Vollkommenheit unvermeidlich aneinander.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 382, 385).

Askese zum halben Preis

Nur die Stärkung des Zeugen führt zur Integration des Meditierers und verhindert seine Regression in die Besessenheit durch den Großen Anderen. Die Geschichte der Fanatismen zeigt, daß solche Regressionen auf der Tagesordnung der »Religionen« stehen. Der Fanatismus läßt das triadische Feld implodieren — wobei das pathologische Ich den Zeugen ausschaltet, indem es sich direkt die Position des Großen Anderen aneignet, um in seinem Namen zu agieren. Im Licht dieser Diagnose wird evident, mit welchem Recht hier behauptet wird, »Religion« sei zunächst und zumeist nichts anderes als ein mißverstandenes mentales Übungssystem, oft überdies ein psychodynamisch entgleistes, beruhend auf einer Aksese zum halben Preis, bei der Anfängerfehler und Merkmale der pathologischen Subjektivität zum Wesen der Sache überhöht werden.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 371).

Der innere Zeuge

Zu den Besonderheiten der enklavierten Subjektivität gehört, wie bemerkt, die Technik der Selbstentzweiung, derentwegen sich die Anachorese zum Grenzfall einer nach innen gezogenen Kunst, in guter Gesellschaft zu sein, ausbildete. Eine vertiefte Selbstanalyse des zurückgezogene Subjekts zeigt allerdings, daß es bei einer Verdoppelung des Übungsträgers in das beobachtete Selbst und den beobachtende Großen Anderen nicht bleiben kann. Die dyadische Relation zwischen der rezessiv isolierten Seele und ihrem inneren Partner erweist sich ihrerseits als eine Figur auf einem Grund von anonymem Bewußtsein, das beide Pole unterspannt. Zu dem Zwiegespräch zwischen dem Ich, das sich der Übung unterwirft, und seinem Mentor, der die Übung überwacht, ist der innere Zeuge hinzuzurechnen, der als dritte Instanz dem Austausch der beiden immer schon beiwohnt. Mit der Entdeckung der triadischen Struktur des mentalen Raums beginnt zugleich die Integration oder Transfusion der Großen Anderen ins Ich. (...) Indem sich das Anfangs-Ich mehr und mehr von seinen pathologischen Zügen befreit (...) zieht es die bedingungslose Präsenz des Zeugen auf seine Seite. So kann es mit der Zeit den seinerseits pathologischen Habitus des Gesehen-werdens-durch-den-Großen-Anderen ablegen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 370-371).

Geburt des Menschen

Prinzipiell: In äußerer Sicht bleibt der Antrieb des Sezessionsgeschehens unauffindbar. Dessen logische Quelle wird erst evident, wenn man die Opposition zwischen den Asketen und der übrigen Welt unter den Kriterien einer ontologischen Analyse rekonstruiert. Nur sie wird imstande sein, zu verdeutlichen, wie die Gesamtheit des Seienden einer Art von Gebietsreform unterlag, in deren Verlauf die Zuständigkeiten »des Menschen« für sich selbst und die übrigen Dinge radikal neu aufgeteilt wurden. Ja, man kann behaupten, daß »der Mensch« aus dieser kosmischen Reform hervorgegangen ist und daß er als Träger einer Heilschance erst durch sie geschaffen wurde. »Der Mensch« entsteht aus der kleinen Minderheit asketischer Extremisten, die aus der Menge treten, um zu behaupten, sei seien eigentlich alle.

Sl***

(Du mußt dein Leben ändern, S. 348-349).

Theaterbesucher

Das große Welttheater handelt von dem Duell zwischen den Sezessionisten und den Seßhaften, den Weltflüchtern und den In-der-Welt-Bleibern. Wo aber Theater ist, tritt die Figur des Beobachters auf den Plan. Wenn die ganze Welt eine Bühne wird, so deswegen, weil es die Sezessionisten gibt, die vorgeben, hier nur Besucher, nicht Mitspieler, zu sein.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 344).

Weil es unmöglich ist

»Schaffen wir den Namen Kerker ganz ab, nennen wir ihn einen Ort der Zurückgezogenheit.«

Tertullians unerschrockene Traineransprache an die Adresse der Morituri von Lyon verrät mit einer nirgendwo sonst je wieder erreichten Klarheit die Logik des christlichen Akrobatismus. Es ist der gute Wille zum strikt Absurden, zum grenzenlos Widersinnigen, zur vollendeten Unmöglichkeit, der die Theologie zur Theologie macht. Er allein hindert sie daran, in eine gewöhnliche Ontologie zurückzugleiten. (...) »Gekreuzigt wurde Gottes Sohn: das ist keine Schande, weil es eine Schande ist; gestorben ist der Sohn Gottes: das ist glaubwürdig, weil es abgeschmackt ist. Und begraben wurde er und erstand auf: Das ist gewiß, weil es unmöglich ist.« Auf diesem certum est quia impossibile beruht praktisch alles, was Europäer seit zweitausend Jahren von vertikalen Dingen wissen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 321, 323).

Die einfachen Leute

Die einfachen Leute erhalten ihr Zertifikat, wenn sie zugeben, daß ihnen schon beim Zuschauen schwindlig wird.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 302).

Basisparadoxie

Wo das akzelerierende Üben seine Effekte durchsetzt, spaltet sich die kulturelle Evolution. Das Resultat ergibt eine Menschheit der zwei Geschwindigkeiten.

Diese Störung ist es, die die Sezession einer Elite aus Lernenden und Übenden aus den alten Gemeinsamkeiten erzwingt. Sie führt zur Konstruktion eines neuen Himmels über der alten Erde und eines neuen koinon über den alten Kommunen. Das zu erobernde koinon, jenes Gemeinsame, in dem seit den Milesiern die Sterne, der Logos und die Polis ein und dieselbe Ordnung bezeugen sollen, ist viel zu erhaben und liegt zu weit abseits der Alltagsintuitionen, um allen zugänglich zu sein. Daraus entwickelt sich die Basisparadoxie sämtlicher Universalismen: daß ein für alle Gemeinsames aufgerichtet wird, an dem die meisten nur im Modus des Nicht-Verstehens beteiligt sein können.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 303).

Hier aber wollen wir bauen

In Wirklichkeit ist die Entdeckung der Leidenschaften und der Gewohnheiten von der Entdeckung der Meinungen nicht zu trennen, da dieselbe Unterbrechung, die den Menschen aus dem Fluß der Emotionen und Gewohnheiten steigen läßt, ihn auch auf die Sphäre der mentalen Routinen aufmerksam werden läßt. Diese Unterbrechung, mit welcher der Beobachter auf den Plan tritt, schafft irreversibel neue Stellungen zur Gesamtheit der Tatsachen, innen und außen. Aus dem Fluß steigen heißt: die alte Habitus-Sicherheit in der ererbten Kultur preisgeben und aufhören, ein Gewächs der ersten Kulturgemeinschaft zu sein. Jetzt gilt es, vom Ufer aus eine neue Welt mit neuen Einwohnern zu gründen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 302).

Menschheitsbelästigung

Was die seit zweieinhalb Jahrtausenden anhaltende Menschheitsbelästigung durch Lehrer eigentlich bedeutet, ist erst zu begreifen, wenn man betrachtet, unter welchen Winkel die Wissenden die Noch-nicht-Wissenden angreifen. Nur dort, wo die Säkularisation der Psyche auf der Tagesordnung stand, bei den Einzelnen wie den Kollektiven, wurden für die Lehrenden die inneren Trägheitsverhältnisse bei den zu Belehrenden thematisch. Sie sind es, die, wie man jetzt zu verstehen begann, dafür verantwortlich zeichnen, daß Menschen nicht umstandslos den Weisungen ihrer neuen ethischen Direktoren zu folgen fähig sind. Wenn man unter den ersten Philosophen-Pädagogen obsessive über Gewohnheiten sprach, dann also im Rahmen einer Widerstandsanalyse: Mit ihrer Hilfe soll verständlich werden, wie das in den Menschen schon Vorhandene, die hexis, der habitus, die doxa (im 18. Jahrhundert kommt das Vorurteil hinzu), die Aufnahme des Neuen, des philosophischen Ethos, des expliziten Logos, der gereinigten Mathesis und der geklärten Methode erschwert oder unmöglich macht. Die »Gewohnheit«, als Wort wie als Sache, steht für die faktische Besessenheit der Psyche durch einen Block von schon erworbenen und mehr oder weniger irreversibel verkörperten Eigenschaften, zu denen überdies die zähe Masse des mitgeschleppten Meinungen gerechnet werden muß. Solange der Block unbeweglich verharrt, kann die neue Belehrung nicht beginnen.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 294-295).

Säkularisation der Psyche

Um zu begreifen, wie sich die Aufhebung der doppelten Besessenheit des Menschen durch die ethisch-asketische Aufklärung vollzog, ist zu bedenken, daß die Geschichte des anthropologischen und pädagogischen Denkens in Europa in the long run identisch war mit einer progressiven Säkularisation der Psyche — das heißt mit der Überführung des Besessenheitslogik in Disziplinprogramme.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 267).

Ethische Konfusion

Die ursprüngliche ethische Konfusion der europäischen Philosophie manifestiert sich in zwei komplementären altehrwürdigen Irrtümern, die die Geschichte des Nachdenkens über die Frage, wie Menschen leben sollen, durchziehen: Der erste verwechselt die Zügelung der Leidenschaften mit der Austreibung von niedren Dämonen, der zweite verwechselt die Überwindung der schlechten Gewohnheiten mit der Erleuchtung durch höhere Geister. Für den ersten Irrweg sind die stoischen und gnostischen Strömungen mit ihrem Streben nach Apathie bzw. schnellem Entkommen in die Überwelt repräsentativ, für den zweiten die platonischen und mystischen Überlieferungen mit ihrer Neigung zur Abtötung des Fleisches bzw. zum Überfliegen des verkörperten Daseins.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 265-266).

Paideia

Die Basiskonfusion der griechischen Ethik wie der zu ihr gehörigen Erziehungskunst entspringt dem Umstand, daß sie nie imstande war, den Unterschied zwischen Leidenschaften und Gewohnheiten in der nötigen Klarheit herauszuarbeiten — weshalb sie den korrespondierenden Unterschied zwischen Herrschaft und Übung ebenfalls nie deutlich auf den Begriff brachte. Die Konsequenzen zeigen sich in der mehr als zweitausendjährigen Zweideutigkeit der europäischen Pädagogik. Diese erstickte ihre Zöglinge anfangs oft unter herrschaftlicher Disziplin, indem sie sie wie Untertanen behandelte, um sie zuletzt immer öfter wie falsche Erwachsene anzusprechen und aus jeder Disziplin und Übungsspannung zu entlassen. Daß Schüler zunächst und zumeist werdende Athleten sind, um nicht Akrobaten zu sagen, die es in Form zu bringen gilt, wurde wegen der moralistischen und politischen Mystifikation der Pädagogik nie mit der in einer so bedeutenden Sache gebotenen Explizitheit herausgestellt.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 263).

Philosophischer Mehrkampf

Nach Foucault darf die Philosophie wieder daran denken, zu werden, was sie gewesen war, bevor das kognitivistische Mißverständnis sie aus der Bahn warf — ein Exerzitium der Existenz. Als Ethos des luziden Lebens ist sie reine Disziplin und reiner Mehrkampf — sie bringt auf ihre Weise die Wiederherstellung des antiken Panathlon mit sich, ohne sich auf eine abgezählte Gruppe von Agonen festzulegen. Die Analogie zwischen Sportarten und Diskurs- und Wissenarten muß möglichst buchstäblich genommen werden. Die philosophische Intelligenz übt die Disziplin, die sie ist, vor allem in den Einzeldisziplinen, in die sie sich versenkt, wenn es sein muß sogar in die »Philosophie«. Vor dem »Durchqueren« muß gewarnt werden: In neunundneunzig von hundert Fällen bleibt es bei Anfängerfehlern stehen. Eine Metadisziplin gibt es naturgemäß nicht.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 245).

Foucaults Wahrnemung

Auf seine Weise wiederholte Foucault die Entdeckung, daß man das »Bestehende« nicht unterwandern kann — nur überwandern. Er war ins Freie getreten und bereit geworden, etwas wahrzunehmen, was für eine in französischen Schematismen konditionierte Intelligenz strikt unsichtbar ist: die Tatsache, daß die Menschen in ihren Ansprüchen an Freiheit und Selbstbestimmung durch die Disziplinen, die Regime und die Macht-Spiele nicht unterdrückt, sondern ermöglicht werden. Die Macht ist kein behindernder Zusatz zu einem ursprünglich freien Können, sie ist für das Können in allen Spielarten konstitutiv.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 241).

Wittgensteins Kulturbegriff

Wittgensteins Verwendung des Begriffs »Kultur« läßt keinen Zweifel aufkommen: Kultur im anspruchsvollen Sinn des Wortes entsteht in seinen Augen erst durch die Absonderung der wirklich Kultivierten von der sonstigen sogenannten »Kultur«, diesem konfusen Aggregat aus besseren und schlechteren Gewohnheiten, die in ihrer Summe kaum mehr als die übliche »Schweinerei« ergeben.

Gleich, ob es um Architektur, Malerei, Musik oder Sprache ging, auf jedem Feld konstituierte sich die Gruppe der Modernen durch eine sezessionistische Operation — durch die Absetzung der Puristen von den Ornamentierern, der Konstruktivisten von den Schwelgern, der Logiker von den Journalisten und der Grammatiker von den Schwätzern. (...) Die Gleichsetzung von Ornament und Verbrechen (...) erinnert im übrigen daran, daß der Funktionalismus anfangs ein Moralismus war, genauer eine asketische Praxis, die dem Guten durch das Weglassen des nicht Verantwortbaren näherzukommen suchte.

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(Du mußt dein Leben ändern, S. 216, 218).


Wittgenstein Türklinke

Konservatismus und List

Während der letzten vierzigtausend Jahre der Humanevolution bestand die Standardreaktion auf das Auffälligwerden von zusätzlicher Unwahrscheinlichkeit, soweit man sieht, in bedingungsloser Abwehr. An ihren habituellen Oberflächen sind alle alten Kulturen, bis zurück zu den paläolithischen Frühformen, konservativer als konservativ.

Da aber auch die stabilsten Kulturen stetig vom symbolischen und technischen Innovationen unterwandert werden, sei es durch Erfindungen am eigenen Herd, sei es durch Kontaktinfektionen mit den Künsten der Nachbarkulturen, praktizieren sie die List, die Neuheit des neu Aufgenommenen zu camouflieren und die einmal eingedrungenen und nolens volens integrierten Elemente dem Vorrat des eigenen Ältesten anzuverwandeln, als gehörten sie seit jeher zum häuslichen Kosmos. In solch einer Eingliederung des Neuen ins Archaische besteht eine der Hauptfunktionen des mythischen Denkens.

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(Du mußt dein Leben ändern, S 189, 190).

Mensch sein

Mensch sein heißt in einem operativ gekrümmten Raum existieren, in dem die Aktionen auf den Akteur, die Arbeiten auf den Arbeiter, die Kommunikationen auf den Kommunizierenden, die Gedanken auf den Denkenden, die Gefühle auf den Fühlenden zurückwirken. Alle diese Arten des Rückwirkens haben, behaupte ich, asketischen, das heißt übungshaften Charakter — obschon, wie gesagt, zum größten Teil den nicht-deklarierten und unbemerkten Askesen bzw. den okkultierten Trainingsroutinen zuzurechnen sind. Es sind erst die ausdrücklich übenden Menschen, die den asketischen Zirkel der Existenz explizit in die Sichtbarkeit heben. Sie schaffen die selbstbezüglichen Verhältnisse, die den Einzelnen auf die Mitwirkung an seiner Subjektivierung verpflichten.

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(Du mußt dein Leben ändern, S 175).

Es gibt keine Religion

Sieht man dem Fetisch Religion auf den Grund, erkennt man ausschließlich anthropotechnische Prozeduren (das gilt analog für den zweiten Großfetisch der Gegenwart: »Kultur«).

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(Du mußt dein Leben ändern, S 166).

Sport

Durch ihre Entspiritualisierung beweist die olympische Bewegung des 20. Jahrhunderts, wie eine »Religion« sich spontan auf das Format ihres wirklichen Gehalts zurückzuentwickeln vermag — auf die anthropotechnische Basis, wie sie sich in einem System gestufter Übungen und diversifizierter Disziplinen verkörpert, integriert in einen Überbau aus hierarchisierten Verwaltungsakten, routinisierten Vereinsbeziehungen und professionalisierten Medienrepräsentationen. Von den Strukturmerkmalen einer ausgebauten »Religion« bleibt nichts zurück außer der Hierarchie der Funktionäre und einem System von Exerzitien, die ihrer säkularen Natur entsprechend Trainingseinheiten heißen. Der IOC-Vatikan von Lausanne hat keine andere Aufgabe, als die Tatsache zu verwalten, daß Gott auch olympisch tot ist.

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(Du mußt dein Leben ändern, S 150-151).