Unwahrheit und Wahrheit

Durch den Doppelbegriff von Unwahrheit hat sich uns jetzt die Aufgabe, nach dem Wesen der Wahrheit zu fragen, gewandelt. Unwahrheit ist nicht ein daneben (neben der Wahrheit) vorkommender Gegensatz, der nachträglich auch zu berücksichtigen wäre, sondern die eine Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist in sich die Frage nach dem Wesen der Un-Wahrheit, weil diese zum Wesen der Wahrheit gehört.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 127)

Nicht un-verborgen

Nicht-Wahrheit ist Nicht-Un-verborgenheit. Nicht un-verborgen ist
1. dasjenige, was noch nicht unverborgen ist,
2. dasjenige, was nicht mehr unverborgen ist.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 127)

Eine Aussage ist wahr

2. Die Aussage ist wahr, sofern sie sich an ein schon Wahres, d.h. an das Seiende als das in seinem Sein Unverborgene anmißt. Wahrheit als solche Richtigkeit setzt Unverborgenheit voraus.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 118)

Ein Seiendes ist wahr

1. Ursprünglich wahr, d.h. unverborgen, ist gerade nicht die Aussage über ein Seiendes, sondern das Seiende selbst, — ein Ding, eine Sache. Ein Seiendes ist wahr, griechisch verstanden, wenn es sich selbst als das und in dem zeigt, was es ist: wahres Gold. Dagegen Scheingold ziegt sich als etwas, was es nicht ist. Es verdeckt, verbirgt sein Was-sein, es verbirgt sich als das Seiende, das es eigentlich ist. Wahr ist also primär ein Charakter des Seienden selbst.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 118)
sondern als ein Fragen, das das Dasein, den Menschen, das Seinsverständnis von Grund aus verwandelt.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 116)

Philosophie verstehen wir nicht

1. als eine Kulturerscheinung, einen Schaffensbereich von Menschen und die entsprechenden Werke,
2. eine Art der Entfaltung einzelner Persönlichkeiten als geistig Schaffender,
3. als Lehr- und Lerngebiet innerhalb eines Systems des Wissenswerten, eine Wissenschaft,
4. als Weltanschauung, Abschluß, Abrundung und Leitbild des Denkens, auch nicht
5. als Existenzphilosophie,

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 115-6)

Wahrheit und Wesens des Menschen

Wahrheit als αληθεια ist demnach nichts, was der Mensch so haben kann oder nicht haben kann in gewissen Sätzen und Formeln, die er lernt und nachspricht und die am Ende sogar mit den Dingen übereinstimmen, sondern etwas, was sein eigenstes Wesen überhaupt zu dem ermächtigt, was es ist sofern es zum Seienden als solchen sich verhält und der Mensch inmitten des Seienden, selbst ein Seiendes, existiert.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 113)

Wahrheit selbst nichts Letztes

1. daß die Wahrheit selbst nichts Letztes ist, sondern noch unter einer Ermächtigung steht,
2. und zwar nicht sie allein, sondern zusammen, unter demselben Joch, mit dem Sein,
3. daß das, was die Wahrheit zu ihrem Wesen ermächtigt, im geschichtlich-geistigen Dasein des Menschen selbst geschieht, sofern er (der Mensch) der Frager ist, der nach dem sich durchfragt, worauf es vor allem Sein und für alles Sein ankommt,
4. nicht im Menschen überhaupt, sondern sofern er in seiner Geschichte stehend sich wandelt und in den Grund seines Wesens zurückgeht.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 113)
εν τωι νωητωι αυτη κυρια αληθειαν και νουν παρασχομενη.

»im Felde des verstehenden Vernehmbaren ist sie [die Idee des Guten] die Herrin, indem sie nämlich Unverborgenheit und νους, d.h. Aufgeschlossenheit im Verstehen von Sein, gewährt.«

P***
(Politeia, 517c 3f)

Erblicken

Die Idee ist dem Erblicken wesensmäßig verhaftet und ist nichts außerhalb dieses Erblickens.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 104)

Das, sage ich, ist die Idee des Guten

τουτο τοινυν το την αληθεαιν παρεχον τοις γιγνωσκομενοις και τωι γιγνωσκοντι την δυναμιν αποδιδον την του αγαθου ιδεαν φαθι ειναι.

Dieses also, was dem erkennbaren Seienden die Unverborgenheit gewährt und was dem Erkennenden das Vermögen zu erkennen verleiht, das, sage ich, ist die Idee des Guten.

Die höchste Idee

Die höchste Idee ist jenes kaum noch Erblickbare, das überhaupt so etwas wie Sein und Unverborgenheit mit-ermöglicht, d.h. Sein und Unverborgenheit als solche zu dem ermächtigt, was sie sind.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 99)

Die Idee des Guten

εν τωι γνωστωι τελευταια η του αγαθου ιδεα και μογις οραθαι.

Im Felde des so eigentlich, in der Wahrheit Erkennbaren ist das zuletzt Erblickbare die Idee des Guten, und sie ist kaum, nur mit Mühe, unter großer Anstrengung zu erblicken.

P***
(Politeia, 517b 8-c 1)

Verbergung und Unverborgenheit

Also Wahrheit ist nicht so einfachhin Unverborgenheit von Seiendem, wobei die vormalige Verdecktheit irgendwo zurückgelassen würde, sondern Offenbarkeit von Seiendem ist notwendig in sich selbst Überwindung einer Verbergung; die Verbergung gehört wesensmäßig zur Unverborgenheit.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 90)

Der Philosoph ist es...

Ο δε γε φιλοσοφος, τηι του οντος αει δια λογισμων προσκειμενες ιδεαι δια το λαμπρον αυ της χωρας ουδαμως ευπετης οφθηναι: τα γαρ της των πολλων ψυχης ομματα καρτερειν προς το θειον αφορωντα αδυνατα.

Der Philosoph ist es, dem liegt am Er-blicken des Seins des Seienden, es ständig be-denkend. Ob der Helle des Ortes, an dem er steht, ist er niemals leicht ze sehen; den der Blick der Seele der Menge ist unvermögend, auszuharren im Hinblicken zum Göttlichen.

P***
(Sophistes 254a 8-b 1)

Entbergsamkeit als Geschehen

Das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden suchen wir in der Entbergsamkeit als einem entbergenden Geschehen, auf dessen Grund der Mensch existiert.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 79)

»philosophisch« will sagen:

»philosophisch« will sagen: nur so, daß das sein-verstehende Fragen in der Fraglichkeit des Seienden im Ganzen seinen Standort nimmt aus einer Grundentscheidung, einer Grundhaltung zum Sein und zu seiner Grenze im Nichts.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 78)
Der Mensch ist derjenige Seiende, der im Erblicken des Seins existiert.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 77)

Gefahrenzone der Philosophie

Daß der Mensch seinem Wesen nach sich aus sich heraus-gestellt hat in die Unverborgenheit des Seienden, ist nur möglich, sofern er in die Gefahrenzone der Philosophie geraten ist. Der Mensch außerhalb der Philosophie ist ein ganz anderer.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 77)

In der Wahrheit sein

Das Wesen der Wahrheit erst läßt uns das Wesen des Menschen begreifen. Wenn wir sagten: eben dieses Wesen der Wahrheit (die Entbergsamkeit) sei das Geschehen, das mit dem Menschen geschieht, dann sagt das: der Mensch, wie wir ihn da, im Gleichnis, in seiner Befreiung sehen, ist in die Wahrheit ver-setzt. Das ist die Weise seiner Existenz, das Grundgeschehnis des Daseins. Die ursprüngliche Unverborgenheit ist das ent-werfende Ent-bergen als Geschehnis, das »im Menschen«, d.h. in seiner Geschichte geschieht. Die Wahrheit ist weder über dem Menschen irgendwo vorhanden (als Gültigkeit an sich), noch ist die Wahrheit im Menschen als einem psychischen Subjekt, sonder der Mensch ist »in« der Wahrheit.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 75)

Entbergsamkeit

Wir bezeichnen so die Einheit des Erblickens, das das Erblickbare erst in gewisser Weise schafft, seinen innersten Zusammenhang. Die Unverborgenheit des Seienden geschieht in der und durch die Entbergsamkeit. Sie ist entwerfend-eröffnender Auftrag, der in die Entscheidung stellt. Das Wesen der Unverborgenheit ist die Entbergsamkeit.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 73)

Ent-bergen

Geschieht Unverborgenheit, dann wird Verborgenheit und das Verbergen behoben und beseitigt. Das Beseitigen von Verbergen, was, was dem Verbergen entgegenhandelt, nennen wir künftig das Ent-bergen. Dieses eigentümliche Er-blicken der Idee, dieser Entwurf, ist entbergend. (...). Sie ist die Sorge schlechthin (...). Das Entbergen ist die innerste Natur des Ins-Licht-sehens.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 72-73)

Was, wie, ob Ideen »sind«

Beim Ursprung der Unverborgenheit der Dinge, des Seienden, d.h. beim Durchlaß desselben durch das Sein, ist das gekennzeichnete Er-blicken nicht minder beteiligt als das im Blicken Erblickte selbst, — die Ideen. Sie machen Unverborgenheit mit aus — heiß also: sie sind nichts »an sich«, nie Objekte. (...). Sie sind weder Dinge, objektiv, noch nur Erdachtes, subjektiv. Was sie sind, wie sie sind, ja ob sie überhaupt »sind«, das ist bis heute unentschieden. Daraus könnten Sie ungefähr den Fortschritt ermessen, den die Philosophie gemacht hat. Aber es gibt ja keinen Fortschritt in der Philosophie.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 71)

Die Ideen

Die Ideen sind das Unverborgenste, von Hause aus Unverborgene, ursprünglich Unverborgene, sonfern in ihnen Unverborgenheit des Seienden entspringt.

Das Seiende ist das Unverborgenste.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 66, 67)

Die Dichtung

Das Wesentliche der Entdeckung des Wirklichen geschieht nicht durch die Wissenschaften, sonder durch ursprüngliche Philosophie und durch die große Dichtung und deren Entwürfe.

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 64)

Die Historie

Daß das Material angewachsen und die sogenannten Fortschritte so groß geworden sind, ist nicht der Grund für die Unmöglichkeit eines wirklichen Verhältnisses zu Geschichte, sondern umgekehrt bereits die Folge einer schon längst bestehenden inneren Verarmung und Unkraft des menschlichen Daseins, — eben der Unkraft, Geschehen von Geschichte zu verstehen (...).

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 63)

Die Entdeckung der Natur

Das Entscheidende, was geschah, ist, daß ein Entwurf vollzogen wurde, was überhaupt unter Natur und Naturvorgang künftig verstanden werden soll (...). Der Entwurf ist bis heute im Prinzip derselbe. Aber etwas hat sich doch geändert; nicht so sehr die inhaltlichen Möglichkeiten, die methodischen Umwälzungen, sondern vor allem: der Entwurf hat seinen ursprünglichen Wesenscharakter der Befreiung eingebüßt, was sich darin zeigt, daß das Seiende, das heute etwa in der theoretischen Physik und in der Physik überhaupt Gegenstand ist, uns durch diese moderne Wissenschaft nicht mehr seiender wurde und wird, sondern das Gegenteil (...).

H***
(Vom Wesen der Wahrheit, S. 61, 62)