Faktum

Wir wissen nicht was »Sein« besagt. Aber schon wenn wir fragen: »Was ist 'Sein'?« halten wir uns in einem Verständnis des »ist«, ohne daß wir begrifflich fixieren könten, was das »ist« bedeutet. Wir kennen nicht einmal den Horizont, aus dem her wir den Sinn fassen und fixieren sollten. Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.

H***
(Sein und Zeit, S. 5).

Leitung vom Gesuchten her

Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn vom Sein mußh; uns daher schon in gewisser Weise verfügbar sein.

H***
(Sein und Zeit, S. 5).

Das Fragen

Das Fragen selbst hat als Verhalten eines Seienden, des Fragers, einen eigenen Charakter des Seins.

H***
(Sein und Zeit, S. 5).

In einem Seinsverständnis leben

Daß wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die grundsätzliche Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von »Sein« zu wiederholen.

H***
(Sein und Zeit, S. 4).

Undefinierbarkeit

Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von der Frage nach seinem Sinn, sondern fordert gerade dazu auf.

H***
(Sein und Zeit, S. 4).

Ersehung ist Gründung

Das Er-sehen des Wesens wird nicht begründet, sondern gegründet, d.h. so vollzogen, daß es sich selbst auf den Grund bringt, den es legt. Das Er-sehen des Wesens ist selbst Gründung des Grundes — Setzen dessen, was Grund, υποκειμενον sein soll. Das Er-sehen als das gründende Hervor-bringen des Wesens als Idee ist daher υποθεσις — das Wassein selbst als den Grund setzen.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 86).

Das Er-blicken

Dieses Hervor-bringen ist kein Anfertigen und Machen — also doch ein Vorfinden. Was indes findbar sein soll, muß schon zuvor sein. Deshalb sind die Ideen; ja, sie müssen als das eigentlich Seiende am Seienden sein, um hervor-gebracht, d.h. ans Licht gestellt werden zu können. — ans Licht, in dem jenes Auge sieht, das Vorblicke wirft, in deren Blickkreis wir erst das Einzelne erfassen. Das Er-sehen des Wesens ist demnach kein Sich-richten nach etwas ohnehin schon Zugänglichem, sondern das Herausstellen des Anblickes — ein Er-blicken im betonten Sinne des Wortes.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 85).

Das Er-sehen

Das Sehen jenes Anblicks, der Idee heißt, ist ein hervorholendes Heraussehen, ein Sehen, das das zu Sehende im Sehen vor sich zwingt. Wir nennen daher dieses Sehen, das sich das zu Sichtende selbst erst in die Sichtbarkeit erbringt und ersieht, das Er-sehen.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 85).

Wesenserkenntnis ist begründungslos

Die Erfassung des Wesens ist eine Art der »Hervor-bringung« des Wesens. Entsprechend muß dann auch die Art der »Begründung« des Wesens und der Wesenssetzung sich gestalten. Denn wenn im Erfassen des Wesens dieses, das zu Erfassende, erst hervor-gebracht wird, wenn somit das Erfassen als solches hervor-gebracht wird, dann kann die »Begründung« des Erfassens keine Berufung auf ein schon Vorhandenes sein, dem die Erfassung sich angleicht. Im Sinne einer solchen Begründung — nämlich der Ausweisung an einem anderswie schon Vorgegebenen im Sinne der Begründung der Tatsachenerkenntnis — ist daher die Wesenserkenntnis notwendig begründungslos.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 83).

Das Nächste

Das Nahe und Nächste ist nicht jenes, was der sogenannte Tatsachenmensch zu greifen meint, sondern das Nächste ist das Wesen, das freilich den Meisten das Fernste bleibt — selbst dann noch, wenn es ihnen gezeigt wird, sofern es sich überhaupt in der gewöhnlichen Weise zeigen läßt.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 82).

Wesenserkenntnis

Bei all diesem Nachsinnen treffen wir immer wieder auf dasselbe: daß die Wesenserfassung und Wesenserkenntnis ihrerseits schon das Recht- und Maßgebende selbst ist, demnach etwas Ursprüngliches und deshalb für das gewöhnliche Denken und dessen Begründungsansprüche ungewöhnlich und befremdlich.

Die Wesenskenntnis bleibt uns ebenso geläufig und notwendig, wie die Wesenserkenntnis und das Wesenswissen uns rätselhaft und willkürlich erscheint.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 81).

Die Wesensbestimmung ist unbegründet

Die Wesensbestimmung läßt sich an den Tatsachen — in unserem Fall an den tatsächlich vollzogenen richtigen Aussagen — nicht belegen; zunächst, weil diese Tatsachen gar nicht übersehbar und vorführbar sind. Aber selbst wenn dieses Aussichtslose gelänge, wäre die Wesensbestimmung doch nicht begründet. Denn das Wesen gilt nicht nur für alle wirklichen Aussagen, sondern ebenso und erst recht für alle möglichen, noch gar nicht vollzogenen.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 78).

ειδος

Die Griechen verstehen unter Sein die beständige Anwesenheit von etwas. Das Beständige ist am jeweiligen Soseienden sein »Was-es-ist«, und das Anwesende ist eben dieses Was als das Vorwaltenden Aussehen, ειδος. Hieraus wird auch ersichtlich, warum die »Wirklichkeit«, das Vorhandensein, nicht eigentlich zum Seienden gehört, weil das, was etwas ist, auch in der Möglichkeit bestehen kann.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 75).

Umschwung

Sofern nun für die Griechen Sein beständige Anwesenheit besagt, wird die Seiendheit des Seienden (ουσια des ον) nur als das Wassein im Sinne der ιδεα bestimmbar. Es ergibt sich hieraus das für unser Denken völlig Befremdliche, daß für die Griechen die »Existenz« und die Wirklichkeit eines Seienden, als das, was wir doch gerade als das »Sein« des Seienden zu bezeichnen pflegen, gar nicht zur Seiendheit des Seienden gehört. Also muß sich seit den Griechen im Verlauf der abendländischen Geschichte ein Umschwung in der Auffassung des »Seins« vollzogen haben, dessen Tragweite wir immer noch nicht ahnen und ermessen, weil wir ganz gedankenlos nur in den Folgen dieses Umschwunges weitertaumeln.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 70).

Wesen ist Wassein

Das Wesen ist das τι ειναι — das Was-sein eines Seienden.

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 61).

Optimisten und Pessimisten

Optimismus ist eine schöne Sache, aber er ist nur die Verdrängung des Pessimismus; und der Pessimismus ebenso wie sein Gegenspieler erwachsen beide nur auf dem Grunde einer Auffassung des Wirklichen und damit der Geschichte im Sinne eines Geschäftes, dessen Aussichten man bald als hoffnungsvoll, bald als gegenteilig berechnet. Optimismus und Pessimismus gibt es nur innerhalb der historischen Betrachtung der Geschichte. Optimisten sind jene Menschen, die den Pessimismus nicht loswerden — denn weshalb anders sollten sie Optimisten sein?

H***
(Grundfragen der Philosophie, S. 54).

Helian


In den einsamen Stunden des Geistes
Ist es schön, in der Sonne zu gehn
An den gelben Mauern des Sommers hin.
Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft
Der Sohn des Pan im grauen Marmor.

Abends auf der Terrasse betranken wir uns mit braunem Wein.
Rötlich glüht der Pfirsich im Laub;
Sanfte Sonate, frohes Lachen.

Schön ist die Stille der Nacht.
Auf dunklem Plan
Begegnen wir uns mit Hirten und weißen Sternen.

Wenn es Herbst geworden ist
Zeigt sich nüchterne Klarheit im Hain.
Besänftigte wandeln wir an roten Mauern hin
Und die runden Augen folgen dem Flug der Vögel.
Am Abend sinkt das weiße Wasser in Graburnen.

In kahlen Gezweigen feiert der Himmel.
In reinen Händen trägt der Landmann Brot und Wein
Und friedlich reifen die Früchte in sonniger Kammer.

O wie ernst ist das Antlitz der teueren Toten.
Doch die Seele erfreut gerechtes Anschaun.


Gewaltig ist das Schweigen des verwüsteten Gartens,
Da der junge Novize die Stirne mit braunem Laub bekränzt,
Sein Odem eisiges Gold trinkt.

Die Hände rühren das Alter bläulicher Wasser
Oder in kalter Nacht die weißen Wangen der Schwestern.

Leise und harmonisch ist ein Gang an freundlichen Zimmern hin,
Wo Einsamkeit ist und das Rauschen des Ahorns,
Wo vielleicht noch die Drossel singt.

Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel,
Wenn er staunend Arme und Beine bewegt,
Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen.

Zur Vesper verliert sich der Fremdling in schwarzer Novemberzerstörung,
Unter morschem Geäst, an Mauern voll Aussatz hin,
Wo vordem der heilige Bruder gegangen,
Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns,

O wie einsam endet der Abendwind.
Ersterbend neigt sich das Haupt im Dunkel des Ölbaums.


Erschütternd ist der Untergang des Geschlechts.
In dieser Stunde füllen sich die Augen des Schauenden
Mit dem Gold seiner Sterne.

Am Abend versinkt ein Glockenspiel, das nicht mehr tönt,
Verfallen die schwarzen Mauern am Platz,
Ruft der tote Soldat zum Gebet.

Ein bleicher Engel
Tritt der Sohn ins leere Haus seiner Väter.

Die Schwestern sind ferne zu weißen Greisen gegangen.
Nachts fand sie der Schläfer unter den Säulen im Hausflur,
Zurückgekehrt von traurigen Pilgerschaften.

O wie starrt von Kot und Würmern ihr Haar,
Da er darein mit silbernen Füßen steht,
Und jene verstorben aus kahlen Zimmern treten.

O ihr Psalmen in feurigen Mitternachtsregen,
Da die Knechte mit Nesseln die sanften Augen schlugen,
Die kindlichen Früchte des Hollunders
Sich staunend neigen über ein leeres Grab.

Leise rollen vergilbte Monde
Über die Fieberlinnen des Jünglings,
Eh dem Schweigen des Winters folgt.


Ein erhabenes Schicksal sinnt den Kidron hinab,
Wo die Zeder, ein weiches Geschöpf,
Sich unter den blauen Brauen des Vaters entfaltet,
Über die Weide nachts ein Schäfer seine Herde führt.
Oder es sind Schreie im Schlaf,
Wenn ein eherner Engel im Hain den Menschen antritt,
Das Fleisch des Heiligen auf glühendem Rost hinschmilzt.

Um die Lehmhütte rankt purpurner Wein,
Tönende Bündel vergilbten Korns,
Das Summen der Bienen, der Flug des Kranichs.
Am Abend begegnen sich Auferstandene auf Felsenpfaden.

In schwarzen Wassern spiegeln sich Aussätzige;
Oder sie öffnen die kotbefleckten Gewänder
Weinend dem balsamischen Wind, der vom rosigen Hügel weht.

Schlanke Mägde tasten durch die Gassen der Nacht,
Ob sie den liebenden Hirten fänden.
Sonnabends tönt in den Hütten sanfter Gesang.

Lasset das Lied auch des Knaben gedenken,
Seines Wahnsinns, und weißer Brauen und seines Hingangs,
Des Verwesten, der bläulich die Augen aufschlägt.
O wie traurig ist dieses Wiedersehn.


Die Stufen des Wahnsinns in schwarzen Zimmern,
Die Schatten der Alten unter der offenen Tür,
Da Helians Seele sich im rosigen Spiegel beschaut
Und Schnee und Aussatz von seiner Stirne sinken.

An den Wänden sind die Sterne erloschen
Und die weißen Gestalten des Lichts.

Dem Teppich entsteigt Gebein der Gräber,
Das Schweigen verfallener Kreuze am Hügel,
Des Weihrauchs Süße im purpurnen Nachtwind.

O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern,
Da der Enkel in sanfter Umnachtung
Einsam dem dunkleren Ende nachsinnt,
Der stille Gott die blauen Lider über ihn senkt.

Nachtlied


Des Unbewegten Odem. Ein Tiergesicht
Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit.
Gewaltig ist das Schweigen im Stein;

Die Maske eines nächtlichen Vogels. Sanfter Dreiklang
Verklingt in einem. Elai! dein Antlitz
Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser.

O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit.
An des Einsamen elfenbeinerner Schläfe
Erscheint der Abglanz gefallener Engel.

T***

Drei Blicke in einen Opal


An Erhard Buschbeck
1
Blick in Opal: ein Dorf umkränzt von dürrem Wein,
Der Stille grauer Wolken, gelber Felsenhügel
Und abendlicher Quellen Kühle: Zwillingsspiegel
Umrahmt von Schatten und von schleimigem Gestein.

Des Herbstes Weg und Kreuze gehn in Abend ein,
Singende Pilger und die blutbefleckten Linnen.
Des Einsamen Gestalt kehrt also sich nach innen
Und geht, ein bleicher Engel, durch den leeren Hain.

Aus Schwarzem bläst der Föhn. Mit Satyrn im Verein
Sind schlanke Weiblein; Mönche der Wollust bleiche Priester,
Ihr Wahnsinn schmückt mit Lilien sich schön und düster
Und hebt die Hände auf zu Gottes goldenem Schrein.

2
Der ihn befeuchtet, rosig hängt ein Tropfen Tau
Im Rosmarin: hinfließt ein Hauch von Grabgerüchen,
Spitälern, wirr erfüllt von Fieberschrein und Flüchen.
Gebein steigt aus dem Erbbegräbnis morsch und grau.

In blauem Schleim und Schleiern tanzt des Greisen Frau,
Das schmutzstarrende Haar erfüllt von schwarzen Tränen,
Die Knaben träumen wirr in dürren Weidensträhnen
Und ihre Stirnen sind von Aussatz kahl und rauh.

Durchs Bogenfenster sinkt ein Abend lind und lau.
Ein Heiliger tritt aus seinen schwarzen Wundenmalen.
Die Purpurschnecken kriechen aus zerbrochenen Schalen
Und speien Blut in Dorngewinde starr und grau.

3
Die Blinden streuen in eiternde Wunden Weiherauch.
Rotgoldene Gewänder; Fackeln; Psalmensingen;
Und Mädchen, die wie Gift den Leib des Herrn umschlingen.
Gestalten schreiten wächsernstarr durch Glut und Rauch.

Aussätziger mitternächtigen Tanz führt an ein Gauch
Dürrknöchern. Garten wunderlicher Abenteuer;
Verzerrtes; Blumenfratzen, Lachen; Ungeheuer
Und rollendes Gestirn im schwarzen Dornenstrauch.

O Armut, Bettelsuppe, Brot und süßer Lauch;
Des Lebens Träumerei in Hütten vor den Wäldern.
Grau härtet sich der Himmel über gelben Feldern
Und eine Abendglocke singt nach altem Brauch.

T***

Abendlied


Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn,
Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns.

Wenn uns dürstet, 
Trinken wir die weißen Wasser des Teichs,
Die Süße unserer traurigen Kindheit.

Erstorbene ruhen wir unterm Hollundergebüsch,
Schaun den grauen Möven zu.

Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt,
Die der Mönche edlere Zeiten schweigt.

Da ich deine schmalen Hände nahm
Schlugst du leise die runden Augen auf,
Dieses ist lange her.

Doch wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht,
Erscheinst du Weiße in des Freundes herbstlicher Landschaft.

Im Dorf



1
Aus braunen Mauern tritt ein Dorf, ein Feld.
Ein Hirt verwest auf einem alten Stein.
Der Saum des Walds schließt blaue Tiere ein,
Das sanfte Laub, das in die Stille fällt.

Der Bauern braune Stirnen. Lange tönt
Die Abendglocke; schön ist frommer Brauch,
Des Heilands schwarzes Haupt im Dornenstrauch,
Die kühle Stube, die der Tod versöhnt.

Wie bleich die Mütter sind. Die Bläue sinkt
Auf Glas und Truh, die stolz ihr Sinn bewahrt;
Auch neigt ein weißes Haupt sich hochbejahrt
Aufs Enkelkind, das Milch und Sterne trinkt.

2
Der Arme, der im Geiste einsam starb,
Steigt wächsern über einen alten Pfad.
Die Apfelbäume sinken kahl und stad
Ins Farbige ihrer Frucht, die schwarz verdarb.

Noch immer wölbt das Dach aus dürrem Stroh
Sich übern Schlaf der Kühe. Die blinde Magd
Erscheint im Hof; ein blaues Wasser klagt;
Ein Pferdeschädel starrt vom morschen Tor.

Der Idiot spricht dunklen Sinns ein Wort
Der Liebe, das im schwarzen Busch verhallt,
Wo jene steht in schmaler Traumgestalt.
Der Abend tönt in feuchter Bläue fort.

3
Ans Fenster schlagen Äste föhnentlaubt.
Im Schoß der Bäurin wächst ein wildes Weh.
Durch ihre Arme rieselt schwarzer Schnee;
Goldäugige Eulen flattern um ihr Haupt.

Die Mauern starren kahl und grauverdreckt
Ins kühle Dunkel. Im Fieberbette friert
Der schwangere Leib, den frech der Mond bestiert.
Vor ihrer Kammer ist ein Hund verreckt.

Drei Männer treten finster durch das Tor
Mit Sensen, die im Feld zerbrochen sind.
Durchs Fenster klirrt der rote Abendwind;
Ein schwarzer Engel tritt daraus hervor.

T***

Menschliches Elend


Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt -
Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen,
Im Abendgarten kahle Bäume sausen.
Des Toten Antlitz sich am Fenster regt.

Vielleicht, daß diese Stunde stille steht.
Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln
Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln.
Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht.

Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind,
Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen.
Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen,
Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind.

Aus Händen sinken Astern blau und rot,
Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise;
Und Lider flattern angstverwirrt und leise;
Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot.

Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei;
Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.
Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;
An einem Träumer lauft ein Hund vorbei.

Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.
Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,
Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.
Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.

T***

Ein Herbstabend


   An Karl Röck

Das braune Dorf. Ein Dunkles zeigt im Schreiten
Sich oft an Mauern, die im Herbste stehn,
Gestalten: Mann wie Weib, Verstorbene gehn
In kühlen Stuben jener Bett bereiten.

Hier spielen Knaben. Schwere Schatten breiten
Sich über braune Jauche. Mägde gehn
Durch feuchte Bläue und bisweilen sehn
Aus Augen sie, erfüllt von Nachtgeläuten.

Für Einsames ist eine Schenke da;
Das säumt geduldig unter dunklen Bogen,
Von goldenem Tabaksgewölk umzogen.

Doch immer ist das Eigne schwarz und nah.
Der Trunkne sinnt im Schatten alter Bogen
Den wilden Vögeln nach, die ferngezogen.

T***

In der Heimat


Resedenduft durchs kranke Fenster irrt;
Ein alter Platz, Kastanien schwarz und wüst.
Das Dach durchbricht ein goldener Strahl und fließt
Auf die Geschwister traumhaft und verwirrt.

Im Spülicht treibt Verfallnes, leise girrt
Der Föhn im braunen Gärtchen; sehr still genießt
Ihr Gold die Sonnenblume und zerfließt.
Durch blaue Luft der Ruf der Wache klirrt.

Resedenduft. Die Mauern dämmern kahl.
Der Schwester Schlaf ist schwer. Der Nachtwind wühlt
In ihrem Haar, das mondner Glanz umspült.

Der Katze Schatten gleitet blau und schmal
Vom morschen Dach, das nahes Unheil säumt,
Die Kerzenflamme, die sich purpurn bäumt.

T***

Geburtstag 3.2.1887

Verfall


Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

T***

Rosenkranzlieder


An die Schwester

Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.


Nähe des Todes

O der Abend, der in die finsteren Dörfer der Kindheit geht.
Der Weiher unter den Weiden
Füllt sich mit den verpesteten Seufzern der Schwermut.

O der Wald, der leise die braunen Augen senkt,
Da aus des Einsamen knöchernen Händen
Der Purpur seiner verzückten Tage hinsinkt.

O die Nähe des Todes. Laß uns beten.
In dieser Nacht lösen auf lauen Kissen
Vergilbt von Weihrauch sich der Liebenden schmächtige Glieder.


Amen

Verwestes gleitend durch die morsche Stube;
Schatten an gelben Tapeten; in dunklen Spiegeln wölbt
Sich unserer Hände elfenbeinerne Traurigkeit.

Braune Perlen rinnen durch die erstorbenen Finger.
In der Stille
Tun sich eines Engels blaue Mohnaugen auf.

Blau ist auch der Abend;
Die Stunde unseres Absterbens, Azraels Schatten,
Der ein braunes Gärtchen verdunkelt.

T***