Gegenwart

Gegenwart, im Sinne von Gegenwart für uns, setzt Anwesenheit, und d.h. »Anwesen zur Zeit«, voraus. Erst Anwesendes kann gegenwärtig und erst Gegenwärtiges kann Gegenstand werden. Anwesendes bedarf nicht der Vergegenständlichung, um anzuwesen. »Sein« im Sinne von Gegenständlichkeit für ein vorstellendes »Bewußtsein« ist aber weder eine bloß »subjektivistische«, noch eine bloß zufällige, noch überhaupt eine menschliche Auslegung des Seins, sondern die Wahrheit, in die das Sein sich selbst und damit auch alles Bewußt»sein« bringt und ein Geschick des Menschen bestimmt, das wir als das neuzeitliche erfahren. So wenig wie die neuzeitliche Wahrheit des Seins nur auf einer Ansicht von Philosophen beruht, so wenig ist das Sein im Sinne von Anwesenheit nur ein Gedankengebilde der griechischen Denker.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 59.

»Sein« = gegenwärtig sein, anwesen

Homer sagt (Ilias, I, 70) vom Seher Kalchas, er sei der, der

ηιδη τα τ'εοντα τα τ'εσσομενα προ τ'εοντα.

»Der ersah sowohl das Seiende als auch das nachmals Seiende, das vormals Seiende auch.«

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 56.

das Seiende wird in mannigfacher Weise gesagt

το ον πολλχως λεγεται

Aristoteles

Der ruhelose Blick

Dem ruhelosen Blick, der beutesüchtig über die Oberflächen schweift, erscheint der verhaltene Reichtum des Einfachen stets als dürftig.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 47.

(Hinge)hören

Nur das angeblich »zwingende« Wissen der Wissenschaft meint, im Hören werde das Gehörte ins Ohr und ins Gehirn übernommen, während das Hören doch gerade das Gehörte dorthin entläßt, wohin es gehört, so zwar, daß das Hören, statt ein Übernehmen zu sein, in Wahrheit ein Hingehen ist und ein Hingehören zum Gehörten.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 46.

Grammatik des Ungesprochenen

Seit langem ist durch die Grammatik eine Entscheidung über das Wesen der Sprache gefallen; insgleichen darüber, was in der Sprache das Gesprochene ist. Seit langem schon wird deshalb im Gesprochenen der Sprache nur auf die verständliche Wortbedeutungen gedacht als das, was den Inhalt des Wortes enthält und es ausschöpft. Das Ungesprochene des Gesprochenen wird vergessen. Es gibt auch keine Grammatik des Ungesprochenen.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 39.

Umgedrehter Platonismus

»Meine Philosophie ist umgedrehter Platonismus« (Nietzsche).

Die Umdrehung des Platonismus beruht darin, daß »das Sinnliche« als das »Aussehen« des Seienden, als die ιδεα, und deshalb als das »Ideal« erschient. Aber diese Umdrehung ist, insgleichen wie die im 19. Jahrhundert und früher schon voraufgegangene, ursprünglich nicht der Akt eines Denkens und nicht die Betrachtung einer Ansicht von der Welt, sondern das Sichzeigen des Seienden selber.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 13.

Sogar der Materialismus ist Platonismus

»Realismus«, »Empirismus«, »Positivismus«, die jeweils nach verschiedenen Hinsichten den »Idealismus« bekämpfen und so den »Platonismus« zurückweisen, bleiben im Grunde Platonismus, weil sie als Gegenbewegungen und Umkehrungen das gar nicht sein könnten, was sie sind, wenn sie nicht als ihren Grund, und d.h. hier als Bereich, innerhalb dessen sie gegen den Idealismus stehen, schon die Unterscheidung des Seienden in das Sinnlich und Nicht-Sinnliche vorausgesetzt hätten.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 13.

Der »Idealismus« ist »Platonismus«

Das Ganze des Seienden erscheint dem Denken dergestalt, daß alles Seiende weil in seinem Sein als ιδεα bestimmt, »ideal« von der Scheidung in einer sinnlichen Welt (αισθητον) und in eine nichtsinnliche Welt (νοητον) durchzogen ist. Dieser Grundzug des Seienden begegnet zum ersten Mal dem Denken Platons in einer Weise, daß er ihn durch die Auslegung des Seins des Seienden als ιδεα begründet und für die Folgezeit in dieser Prägung zugänglich machen kann. Der »Idealismus« ist »Platonismus«.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 12.

Einsame Denker

Jeder Denker ist einsam, nicht weil ihm Anhänger fehlen, sondern diese gehören nicht zu ihm, weil er einsam ist, und d.h. nur versammelt in das Sein selbst durch dieses.

H***
Der Spruch des Anaximander, S. 4.

Der Spruch des Anaximander .3

»Woher aber die Dinge das Entstehen haben, dahin geht auch ihr Vergehen nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der festgesetzten Zeit.«

Übersetzung Hermann Diels

Der Spruch des Anaximander .2

»Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen einander Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.«

Übersetzung Friedrich Nietzsche

Der Spruch des Anaximander

Εξ ων δε η γενεσις εστι τοις ουσι και η φθορα εις ταυτα γενεται κατα το χρεων⋅ διδουσι γαρ αυτα δικην και τισιν αλληλοις της αδικιας κατα την του χρονου ταξιν.

Lukubrazionen

Wir sind nicht für Heldenthaten, wohl aber für Lukubrazionen.

Th*** (Friedrich Gottlob Klopstock. Wie er seit einem halben Jahrhundert als Dichter auf die Nazion und als Schriftsteller auf die Literatur gewirkt hat, 1805, S. 47.)

An Ebert

Ebert, mich scheucht ein trüber Gedanke vom blinkenden Weine
Tief in die Melancholey!

Ach du redest umsonst, vor dem gewaltiges Kelchglas,
Heitre Gedanken mir zu!

Weggehn muß ich, und weinen! vielleicht, daß die lindernde Thräne
Meine Betrübnis verweint.

Lindernde Thränen, euch gab die Natur dem menschlichen Elend
Weis’ als Gesellinnen zu.

Wäret ihr nicht, und könnte ihr Leiden die Menschen nicht weinen;
Ach! wie ertrügen sie es da!

Weggehn muß ich, und weinen! Mein schwermuthsvoller Gedanke
Bebt noch gewaltig in mir.

Ebert! … sind sie nun … alle dahin! deckt unsere Freunde
Alle die heilige Gruft;

Und sind wir… zween Einsame… dann von allen noch übrig!..
Ebert! … verstummst du nicht hier?

Sieht dein Auge nicht bang um sich her, nicht starr ohne Seele?
So erstarb auch mein Blick!

So erbebt’ ich, als mich von allen Gedanken der bängste
Donnernd das erstemal traf!

Wie du einen Wanderer, der, zu eilend der Gattin,
Und dem gebildeten Sohn,

Und der blühenden Tochter, nach ihrer Umarmung schon hinweint,
Du den, Donner, ereilst,

Tödtend ihn fassest, und ihm das Gebein zu fallendem Staube
Machst, triumphirend alsdann

Wieder die hohe Wolke durchwandelst; so traf der Gedanke
Meinen erschütterten Geist,

Daß mein Auge sich dunkel verlor, und das bebende Knie mir
Kraftlos zittert’, und sank.

Ach, in schweigender Nacht, ging mir die Todtenerscheinung,
Unsre Freunde, vorbey!

Ach in schweigender Nacht erblickt’ ich die offenen Gräber,
Und der Unsterblichen Schaar!

Wenn nicht mehr des zärtlichen Giseken Auge mir lächelt!
Wenn, von der Radikin fern,

Unser redlicher Cramer verwest! wenn Gärtner, wenn Rabner
Nicht sokratisch mehr spricht!

Wenn in des edelmüthigen Gellert harmonischem Leben
Jede Saite verstummt!

Wenn, nun über dem Grabe, der freye gesellige Rothe
Freudegenossen sich wählt!

Wenn der erfindende Schlegel aus einer längern Verbannung
Keinem Freunde mehr schreibt!

Wenn in meines geliebtesten Schmidts Umarmung mein Auge
Nicht mehr Zärtlichkeit weint!

Wenn einschlummernd sich Hagedorn unser Vater entfernt;
Ebert, was sind wir alsdann,

Wie Geweihte des Schmerzes, die hier ein trüberes Schicksal
Länger, als Alle sie ließ.

Stirbt dann auch Einer von uns, mich reißt mein banger Gedanke
Immer nächtlicher fort!

Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Einer noch übrig;
Bin der Eine dann ich;

Hat mich dann auch die schon geliebt, die künftig mich liebet,
Ruht auch sie in der Gruft;

Bin dann ich der Einsame, bin allein auf der Erde:
Wirst du, ewiger Geist,

Seele zur Freundschaft erschaffen, du dann die leeren Tage
Sehn, und fühlend noch seyn?

Oder wirst du betäubt für Nächte sie halten, und schlummern,
Und gedankenlos ruhn?

Aber wenn du bisweilen erwachtest zu fühlen dein Elend,
Banger, unsterblicher Geist?

Rufe, wenn du erwachst, das Bild von dem Grabe der Freunde,
Das nur rufe zurück!

O ihr Gräber der Todten! ihr Gräber meiner Entschlafnen!
Warum liegt ihr zerstreut?

Warum liegt ihr nicht in blühenden Thalen beysammen?
Oder in Hainen vereint?

Leitet den sterbenden Greis! Ich will mit bebendem Fuße
Gehn, auf jegliches Grab

Eine Zypresse pflanzen, die noch nicht schattenden Bäume
Für die Enkel erziehn,

Oft in der Nacht auf biegsamen Wipfeln die himlische Bildung
Meiner Unsterblichen sehn,

Zitternd mein Haupt gen Himmel erheben, und weinen, und sterben!
Grabet den Todten dann ein

Bey dem Grabe, bey dem er starb! Nimm dann, o Verwesung!
Meine Thränen, und mich!...

Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern!
Wie die Ewigkeit ernst,

Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele
Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!

Übergang ist Ent-scheidung

Übergang ist daher nie Vermittelung sondern Ent-scheidung, die sich nur in das gründen kann, wofür sie sich als das zu Gründende entscheidet. Historisch gerechnet ist der Übergang in die Jähe des Ab-bruches des Unvermittelbaren ein Sprung ins »Nichts«; geschichtlich naht in ihm die Nähe des Seyns, dem jegliches Seiende, bevor es sich bedacht und nachdem es sich vergessen hat, schon zugewiesen und noch übereignet ist.

H***
(Besinnung, S. 405)

Vormacht der Besinnungslosigkeit

Die Weltanschauung ist der Vollzug der Bestätigkeit der Vormacht einer unbedingten Besinnungslosigkeit im Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit.

H***
(Besinnung, S. 402)

Die »Weltanschauung« ist ein Ableger der Metaphysik

Die »Weltanschauung« ist ein Ableger der Metaphysik (...). Wesentlich für die »Weltanschauung« ist:
  1. der Vorrang des Seienden (Wirklichen) (Seinsvergessenheit)
  2. das Absehen auf »Ziele« und »Ideale«, die verwirklicht werden sollen;
  3. die Einrichtung der Wege und Mittel solcher Verwirklichung;
  4. Alles dieses in einer im voraus gewollten öffentlichen Gemeinverständlichkeit;
  5. demgemäß historisch, aber wahllos denkend und rechnend und d.h. durch und durch ungeschichtlich
H***
(Besinnung, S. 402)

»Weltanschauungen«

Dasselbe leistet, nur in einer entgegengesetzten Weise — die Vormacht der »Weltanschauungen«. Sie sind die ganz im Seienden ausgebreiteten und die mit ihm als dem »Wirklichen« — »Lebensnahen« rechnenden Formen bzw. Unformen der Metaphysik. Als solche berufen sie sich auf das »Wirkliche« in den Verhältnissen, Begebenheiten und Umständen, auf den »Charakter« und den »Instinkt« in menschlichen Haltungen. Sie wehren alle »Ontologie« als »bloß« verstandesmäßige, leere Begriffsrechnung ab und erwecken doch nur gleich jener den Schein, die Deutung des Seienden und Maßstabsetzungen beizubringen.

H***
(Besinnung, S. 401)

Die »Ontologie«

Die »Ontologie« hat daher die Rolle, die Frage nach der Wahrheit des Seyns in der ihr gemäßen Unzugänglichkeit für die Metaphysik zu halten; sie ist ein von der Metaphysik dem seynsgeschichtlichen Denken wider die Absicht gewährter Schutz vor einer Verunstaltung durch das Nichtbegreifen.

H***
(Besinnung, S. 401)

Selbigkeit des Seyns mit dem Nichts

Vielmehr ist die Selbigkeit des Seyns mit dem Nichts das Zeugnis dafür, daß das Seyn vor allem Seienden niemals ein »nichtiges« sein kann, weil es der Abgrund der Wesung dessen ist, worin jegliches Seiende als ein solches gründet. Der Ab-grund aber ist kein »Absolutes« — für sich losgelöstes und beständiges Seiendes —, sondern das Er-eignis des Kommens, was freilich mit dem metaphysisch allzusehr belasteten Namen »Endlichkeit« nicht benannt werden darf, es sei denn, das Denken und Nach-denken löse sich zuvor aus den gewohnten Vorstellungsbahnen und werde zu einem sich loslassenden Mitfragen einer Frage.

H***
(Besinnung, S. 395)

Vor-herigkeit

Vor-herigkeit ist, seynsgeschichtlich gedacht, ein Anklang des Ab-grundes der Lichtung, die zuvor schon west und doch zunächst unvorstellbar bleibt, weil sie überhaupt nicht vor-gestellt werden kann.

H***
(Besinnung, S. 391)

Überschattung

Woher diese Überschattung — die Ungegründetheit der Wahrheit des Seins, das Nichtwissenkönnen der Wahrheit in ihrem Wesen als Wahrheit des Seins.

H***
(Besinnung, S. 391)

Nietzsches »Heraklitismus«

Nicht der »Heraklitismus« bringt Nietzsche in den geschichtlichen Wesensbezug zum Anfang, sondern jenes Denken, demzufolge die Frage nach Sein des Seienden sich auflöst in die unbeschränkte Vormacht des Seienden im Ganzen als sich selbst beständigendes und bestätigendes »Leben«, das auf keinen »Wert« mehr abschätzbar, sonder nur lebbar ist.
H***
(Besinnung, S. 385)

Verbergung ist Verweigerung

Das Seyn verbirgt so die Möglichkeit seiner Wahrheit und deren Gründung, läßt das Seiende nur in das Allgemeine der Seiendheit los. Diese Verbergung ist Verweigerung, die aus dem Seyn selbst kommt, das nur noch die leere Seiendheit als ihr Unwesen in die Seinsvergessenheit wegschickt.

H***
(Besinnung, S. 364)