Einsamer nie als im August:

Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde - im Gelände
die roten und die goldenen Brände
doch wo ist deiner Gärten Lust?

Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge -
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

Du übersiehst dich nicht mehr

Du übersiehst dich nicht mehr
Der Anfang ist vergessen,
die Mitte wie nie besessen,
und das Ende kommt schwer.

Was hängen nun die Girlanden,
was strömt nun das Klavier,
was zischen die Jazz und die Banden,
wenn alle Abende landen
so abgebrochen in dir?

Du könntest dich nochmals treiben
mit Rausch und Flammen und Flug,
du könntest -: das heißt, es bleiben
noch einige Töpferscheiben
und etwas Ton im Krug.

Doch du siehst im Ton nur die losen,
die Scherben, den Aschenflug -
ob Wein, ob Öl, ob Rosen,
ob Vase, Urne und Krug.

(Gottfried Benn, 1886-1956)

Zehn Attentäter .10

An die zehnte und letzte Stelle plaziere ich die Überwindung des Mythos von der Entrückung des Erkennenden in der jüngeren Wissenschaftsforschung. Der einschlägige Name ist hier der von Bruno Latour. Er ist zugleich der Urheber der theoriepolitisch subversiven Forderung nach der Re-Inklusion der Experten. Von nun an sollen diese nicht mehr als externe Botschafter aus der Welt der Ideen auftreten sind nicht länger die Abgesandten fremder ontologischer Mächte wie der Atome, der Sterne oder der platonischen Körper und dürfen sich nicht mehr auf die Mission berufen, in einer Gesellschaft von Ignoranten externes Wissen zu vertreten. Vielmehr haben sie sich künftig als Koproduzenten von Kenntnissen zu verstehen, die in den Wissengesellschaften elaboriert werden und diversen Parlamenten zirkulieren. Wie die Technik ist das wissenschaftliche Wissen als »Fortsetzung der sozialen Beziehungen mit anderen Mitteln« aufzufassen. Muß ich erklären, warum der zehnte Dolch dem schon daniederligenden Opfer besonders weh tut?



Sl***
(Scheintod im Denken, S.143)

Zehn Attentäter .9

Ich nenne an neunter Stelle die Widerlegung des Apathismus in der Theorie durch die zeitgenössischen Neurowissenschaften. Diese führten in jüngerer Zeit den Nachweis, daß die Verknüpfungen zwischen Logik und Emotionalität in den menschlichen Gehirnstrukturen tiefer reichen, als jede noch so wache Selbstbeobachtung zu erfassen vermag. So münden auch die Ergebnisse dieser Disziplin in die Forderung, den Traum von einer reinen apathisch-noetischen Theorie ad acta zu legen.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.142-3)

Zehn Attentäter .8

An achter Stelle beobachten wir die Versuche des Feminismus, sämtliche bisherigen Diskursordnungen als Fabrikationen einer herrschenden Männlichkeit zu entlarven. Mit einemmal wurde augenfällig, wie sehr das Männliche sich von alters her darauf verstand, sich auch auf dem Gebiet der Suche nach Erkenntnis als Inbegriff des Menschlichen auszugeben.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.142)

Zehn Attentäter .7

An siebenter Stelle nenne ich die Unterwanderung des akademischen Diskursbetriebs durch die Wissenssoziologie. Sie entlarvte den Schein objektiver Theorie durch den Nachweis einer strikten Bindung aller gängigen Diskurse an akademische Erfolgsmuster und an die Sprachspiele machthabender Mehrheiten. Als erster zog Max Scheler aus diesen Untersuchungen ein einddrucksvolles Resümee, als er in seinen Studien zur Wissenssoziologie die nicht aufhebbare Gebundenheit von Erkenntnissen an »Interessen« offenlegte.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.141)

Zehn Attentäter .6

An sechster Stelle nenne ich die Aufsprengung des philosophischen Systemdenkens und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung durch den Existentialismus. (...). Bekanntlich hat Sartre (vor seiner mutwilligen Selbstunterbietung durch Anbiederung an die marxistische Soziologie) das Wesen des Menschen als einen Überschuß an Negativität gedeutet, die sich in einer permanenten Losreißung vom Faktischen und Bisherigen macht. Die Theatermetapher »Engagement« verrät wie im 20. Jahrhundert selbst eine profunde Lehre von der menschlichen Freiheit dazu verwendet werden könnte, der Zerstörung der Kontemplation in die Hände zu arbeiten.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.140-1)

Zehn Attentäter .5

An fünfter Stelle möchte ich die Erschütterung des Glaubens an desinteressierte Erkenntnis in den modernen Naturwissenschaften erwähnen, die insbesondere durch die Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki hervorgerufen wurde. (...) Die Konsequenzen hieraus hat namentlich der (in die Entwicklung der nicht-verwirklichten »deutschen Bombe« involvierte) Physiker-Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker gezogen, in dem er die für alle Zukunft unentbehrliche Formel »Wissenschaft und Verantwortung« prägte.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.139)

Zehn Attentäter .4

An die vierte Stelle rücke ich die Subversion der abendländischen Rationalitätskultur durch die phänomenologische Analyse, die alle Theorie auf den vortheoretischen Grund der »Stimmung« setzte. Hier ist vor allem an Martin Heidegger zu erinnern.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.138)

Zehn Attentäter .3

An die dritte Stelle [nenne ich] die Unterwanderung des klassischen Apathie-Prinzips durch das parteinehmende Denken. (...) [Georg Lukács] kommt unter den Denkern des 20. Jahrhunderts insofern ein so herausragender wie problematischer Rang zu, als er nach seiner Konversion zum Marxismus das Prinzip »Klassenbewußtsein« zum Apriori aller moralisch vertretbaren geistigen Tätigkeiten zu erheben versuchte. Dabei trug er nicht nur das seine bei zum Beschuß der alteuropäischen Akademia durch die Kampfkategorie der »bürgerlichen Wissenschaft« mit deren Hilfe jede nicht-marxistische Form von Theoriebildung als Komplizin des »Bestehenden« diffamiert werden sollte, als Apologet von Lenins und Stalins exterministischer Politik beteiligte Lukács sich an der Verklärung der »revolutionären Gewalt« in der Sowjetunion — deren Opfer in Größenordnungen zwischen fünfundzwanzig und vierzig Millionen Menschenleben liegen.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.137-8)

Zehn Attentäter .2

An zweiter Stelle nenne ich die Abkehr des modernen Denkens von den Fiktionen des epistemischen Souveränismus. Hier ist vor allen anderen Friedrich Nietzsche zu erwähnen, dessen theoretische Impulse auf eine Kritik der perspektivischen Vernunft hinauslaufen. Nietzsche hat in seinen Beiträgen zur Vernunftkritik nicht weniger geleistet als den Nachweis, daß alle Erkenntnis von lokalem Charakter ist und daß kein menschlicher Beobachter es bei der Nachahmung des göttlichen Auges so weit zu bringen vermag, den eigenen Standort wirklich zu transzendieren.



Sl***
(Scheintod im Denken, S.136-7)

Zehn Attentäter .1

An erster Stelle ist hier die Zurückbettung der Theorie in die Praxis zu nennen (...). Es beginnt das zweite demokratische Experiment, sofern Demokratie (...)nur ein anderer Name für die Priorisierung des praktischen und politischen Lebens gegenüber sämtlichen anderen Daseinsprojekten ist.



Stellvertretend für viele andere Denker dieser Tendenz ist hier der Name von Karl Marx anzuführen. Mag er auch nur ein dubioser Zeuge für das Interesse an Demokratie sein, so ist an seiner Vorreiterrolle bei der Unterwerfung des theoretischen unter das praktische Leben nicht zu zweifeln. Mit seinem Werk verbindet sich der schicksalhafte Einbruch des Realen in die Sphäre der Theorie. Schicksalhaft wurde diese Wende vor allem deshalb, weil Marx das Wesen des Realen nicht nur als materielle Produktion, sondern auch als Krieg um die Aneignung der Produkte auslegte, mithin als immerwährender Klassenkrieg (...).

Sl***
(Scheintod im Denken, S.134, 135)

Iden des März

Der reine Funktionär des Absoluten

Hier stellt sich der Idealismus ein pures Exerzitium des Aufmerksamswerden des Geistes auf sein eigenes Operieren vor. Hat sich das Denken von allem Objektivismus losgerissen und jedem Fetischglauben an ein vorgängiges, autonomes Sein abgeschworen, tritt es, nach Fichte, in eine Zone absoluter Freiheit ein. In ihr erlischt das bisherige weltverfallene Ich und wird durch eine unbedingte von Bewußtsein erhellte Lebendigkeit »endogener« Art ersetzt. Von nun an ist der Wissende ein reiner Funktionär des Absoluten. Er versteht sich als einen Strahl, der aus dem jeden Ich vorgelagerten Göttlichen in die Erscheinungswelt hervorgeht. Er begreift sich als einen bevollmächtigten Agenten der Idee und lebt auf Erden als ein von höchster Motivationen erfüllter Scheintoter.

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(Scheintod im Denken, S.114

Heiligkeit, Genialität

Man hat vergessen oder nie bedacht, daß das Genialität in der Renaissance als neopaganes Substitut der christlichen Heiligkeit lizensiert worden war — beide jedoch, Heiligkeit und Genialität, waren ihrerseits epochentypische Neuauslegungen des antiken Scheintod-Konzepts: Hier wie dort sollte der Einzelne sein profanes sterbliches Ich ablegen, um es gegen ein unzerstörbares geistseelisches Selbst auszutauschen. Dieser Tausch fügt den mittelalterlichen Menschen in die Gemeinschaft der Heiligen ein; bei den Individuen der frühen Neuzeit kommt er eine Aufnahme in den Hochadel des »Furors« gleich.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.112

Eine Prozession von imaginären Scheintoten

Wenn man den Verlauf der europäischen Geistesgeschichte bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert summa summarum als eine Prozession von imaginären Scheintoten beschreiben darf, die sich dem theoretischen Leben verschrieben haben, monastisch und laïkal, professoral und zivil, ethisch und ästhetisch, dann beweist dies die unermeßliche Suggestivität der platonischen Lehre von der Vorwegnehmbarkeit des Zustands, in dem die Denkseele »desinteressiert«, »mortifiziert« und »abgetrennt« wird.

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(Scheintod im Denken, S.103)

Der berufsmäßige Leser

Der berufsmäßige Leser, der Gelehrte, der Pandit, wird zum Agenten einer neuartigen Form von Konzentration — ja, er sammelt nicht nur, er verwandelt sich selbst in eine Sammlung, in einen mit Wissen angefüllten Menschen, der zwischen inneren und äußeren Speichern hin- und hergeht. Er bewährt sich als homo humanus indem er seine Existenz als Hineingehaltensein in den Zwischenraum zwischen innerer memoria und äußerem Archiv bewältigt.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.91)

Ernten auf den Feldern des Wissens

Das Lesen gilt folgerichtig als Ernten auf den Feldern des Wissens. Der homo legens wird so auf unauffällige Weise zu allgemeiner epoché-Fähigkeit erzogen. Wer gelernt hat, auf beschriebene Rollen und bedruckte Seiten zu schauen, übt immer schon Abstand gegenüber dem Geschriebenen, das seinerseits Abstand zum Gesagten und Erlebten hält. Er fungiert als Erntearbeiter in dem Maß, wie er fähig ist, aus den Parzellen des Textes das Seine zu holen. Wie nach Heidegger Denken und Danken zusammengehören, so auch Lesen und Sammeln.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.90-1)

Trainingsvorsprung der Weltabgewandten

Die von Natur aus Weltabgewandten scheinen prädestiniert, von Visionen und Einfällen heimgesucht zu werden. Nicht selten sind es die weltverlorenen Menschen, die ihrer ferngerückten Mitwelt auf dem Umweg über ihr tonisches Innenleben viel zurückgegeben haben. Wer einer solchen Haltung zuneigt, bewegt sich in einem selbstverstärkenden Zirkel. Wenn sich der melancholicus in sein Inneres zurückzieht, ist er spontan disponiert, den Übergang vom existentiellen Abseitsstehen zum methodischen Abstandnehmen zu vollziehen. Er macht aus dem habituellen Schritt zur Seite den Theoriefördernden Schritt zurück. Er exerziert die Einklammerung seiner Lebensbezüge in natürlicher epoché. Hierdurch besitzt er einen Trainingsvorsprung bei den Haltungen, die den bios theoretikos und das vielgelobte Urteil sine ira et studio begünstigen.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.85-6)

Zweite Chance für die Philosophie

Sobald mit der europäischen Renaissance ein neuer Zyklus des forschenden Denkens einsetzt, das sich Zug um Zug von der Theologie emanzipiert, kann die wiederkehrende Philosophie sich eine zweite Chance ausrechnen. Mit ihr meldet sich — unvermeidlich — das verliererromantische Syndrom zurück. Die Ambition der neuzeitlichen Philosophie zielt freilich weiter, als die antike es sich träumen ließ. In der Moderne wird die Überbietung der Selbstbeherrschung durch die Weltbeherrschung auf die Tagesordnung gesetzt.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.79)

Nebenkaiser des Denkens

Die Spätantike erlebt schließlich den Untergang der Philosophie in der Theologie. Die freie Verliererromantik muß den funktionalen Imperativen des monarchischen Weltalters weichen. (...). Die (...) Fürsten sind an Priestern, nicht an Philosophen interessiert: Die Rolle des Souveräns ist für anderthalb Jahrtausende eindeutig vergeben. Monarchen ist nicht an Schülern gelegen, sondern an Gefolgschaften. Nebenkaiser des Denkens werden nicht gebraucht.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.79)

Verliererromantik

Nichts ist für die Verliererromantik so charakteristisch wie die Tendenz, daß ihre Akteure sich die eigene Ohnmacht in praktischen Dingen als Tugend anrechnen und ihre Unbrauchbarkeit zu konkreten Ämtern und Diensten als Beweis der zuständigkeit für sämtliche Weltprobleme proklamieren. Mit den philosophierenden Kosmopoliten der nachplatonischen Ära tritt der Typus der freischwebenden Intellektuellen auf den Plan, die aus der Not der Niederlage die Tugend der Bindungslosigkeit machen — ergänzt um das Recht der Einmischung in alles, was Menschen angeht. Romantik ist imaginärer Souveränismus in nach-politischen Situationen.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.76)

Zerfall der Polis und der Tod

Nach dem Zerfall der Polis in ein Konglomerat von Interessengruppen, die kein gemeinsamer Gott mehr zu vereinigen vermochte und die kein glaubwürdiges Decorum in die Pflicht nahm, tritt die Philosophie auf den Plan, um den Tod eine umstürzend neue Bedeutung zuzuschreiben. Er wandelt sich von einer potentiellen Opfergabe des Bürgers an das Gemeinwesen zu einem Gegenstand romantischer Spekulation, gelegentlich zu einem Spielzeug metaphysischer Laszivität. Vor allem aber wird der Tod, als bewußte Rückkehr in den Ursprung verstanden, zu einer Aufgabe, der sich die Einzelnen mit letzter Verbindlichkeit widmen können, ohne daß ihnen die »Gesellschaft«, jetzt nur noch ein äußerliches Miteinander individualisierter Interessenverfolger, dazwischenreden dürfte.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.73)

Platons Akademia .3

Die institutionelle Etablierung der Philosophie durch die Eröffnung von Platons Schule um 387 v.Chr. war eine Reaktion auf den Zusammenbruchs des athenischen Polismodells. Sie zog die Konsequenzen aus den kruden Evidenz, daß die Demokratie als kollektive Form des guten Lebens gescheitert war. Die Politik, als geteilte Sorge um das Gemeinwesen, hatte aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. (...) Die Philosophie, wie Platon sie der Nachwelt übergab, ist eine Tochter der Niederlage und zugleich deren Kompensation durch eine geistreiche Flucht nach vorn.

Sl***
(Scheintod im Denken, S.69)