δυναμις κατα κινησιν: Wechselbezug

(...) [δυναμις] κατα κινησιν, auf Bewegung hin verstandene Kraft. Es bedeutet nicht lediglich, wie es anfänglich schien, daß es sich um eine Kraft handelt, die nur an einem in Bewegung Befindlichen festgestellt werden könne. Sondern die δυναμις κατα κινησιν ist diejenige, deren Wesensbau in dem Grundphänomen der μεταβολη, eben in dem Wechselbezug von δυναμις του ποιειν und του πασχειν mitgegeben ist, von solcher Bewegung her — auf solche Bewegung hin verstanden ist.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.115)

Entzughafte Bezug

Die entscheidende These (a 30/31) lautet: »Jede Kraft ist Unkraft in Bezug auf dasselbe und gemäß desselben.« Damit ist ausgesprochen, daß die Unkraft in den Bereich der Kraft, die ihr entzogen bleibt, gleichwohl gebunden ist. Dasjenige, dem etwas entzogen ist, wird in und durch diesen Entzug gerade auf das Entzogene bezogen. Und dieser entzughafte Bezug ergibt, trotz des negativen Charakters der Entzogenheit, für das, was im Entzug steht, je eine eigene positive Charakteristik gemäß der Weise des Entzugs (die bezüglich ein und desselben noch verschieden ist).

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.111)

Jegliche Kraft ist Unkraft

του αυτου και κατα το αυτο πασα δυναμις αδυναμια. »In Bezug auf dasselbe und in Gemäßheit desselben ist jegliche Kraft Unkraft«. (...) Betont soll werden der Rückbezug der Un-kraft auf dasselbe, wozu die Kraft Kraft ist; betont soll werden die verfassungsmäßige Zugehörigkeit der Unkraft zur Leitbedeutung der Kraft — als eine innere Abwandlung dieser, und zwar in verschiedenen Hinsichten, die mit der Kraft zu etwas je nach ihrem Sachgehalt schon vorgegeben sind.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.110)

Die Einheit des Kraftseins

Die Einheit des Kraftseins muß vielmehr dahin verstanden werden, daß sie als Einheit des rück- und einbezüglichen Bezogenseins gerade fordert die ontische Verschiedenheit bzw. Unterschiedenheit des Seienden, das da je im Charakter des Kraftseins steht, d.h. »Subjekt« der Kraft ist. Also eine Kraft besteht nicht aus zwei Kräften, sondern wenn das Kraftsein in einem Seienden ist, ist das Seiende in zwei Kräften gespalten.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.107)

Einbezug der Kräfte im Kraftsein

Das Kraftsein besteht nicht aus zwei vorhandenen Kräften; sondern sofern eine Kraft vorhanden ist, liegt in diesem Vorhandensein die einbeziehende Ausrichtung auf die entsprechende Gegenkraft, weil dieser ausgerichtete Einbezug zum Kraftsein der Kraft gehört.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.106)

Ontologischer Begriff der Kraft

Aus all dem ergibt sich: Kraft ist in sich der Bezug der αρχη του ποιειν auf eine αρχη του πασχειν und umgekehrt. Das Wesen der Kraft ist in sich, aus dem eigenen Wesen her und in Bezug auf dieses, in einer ursprünglichen Weise in zwei Kräfte auseinandergegangen. Das meint freilich nicht, eine gerade vorhandene, bestimmte einzelne Kraft bestehe aus zwei Kräften, sondern die Kraft in ihrem Wesen, d.h. das Kraftsein als solches ist dieser Bezug des ποιειν auf ein πασχειν: das Kraftsein ist beides als eines — ως μια. Der Bezug ist Einbezug; und einbeziehend ist die Kraft mit auf Grund ihres Ausgerichtetseins und Übertreffens. »Kraft« so genommen, verstanden als Kraftsein, ist der »ontologische« Begriff der Kraft (...).

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.105)

Recht kräftig

Also von einem schlechten Redner sagen wir: er kann nicht reden; obzwar er, die Sache einfachhin genommen, gewiß redet und vielleicht übergenug redet (...). Kraft-haben-zu heißt hier: in der rechten Weise fertig werden können mit etwas; Können im Sinne von Meistern, Meister sein über..., von Meisterschaft. (...) Kräftig zu etwas ist eine Kraft erst eigentlich, wenn sie es in der rechten Weise ist.

Das καλως bedeutet nicht eine Zugabe, sondern zeigt einen Charakter an, der — in sich wandelbar — zum Wesen der δυναμις gehört. Kraft zu etwas ist daher immer ein Nichtzurückbleiben hinter einem bestimmten Wie. Im Wesen der Kraft liegt gleichsam ein Anspruch an sich selbst, sich zu übertreffen.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.100, 101)

Das Widerstehende selbst ist das Kräftige

Wenn wir im Erfahren von Widerständigem durch dieses hindurch wirkende Kräfte erfahren, dann ist der Widerstand nicht als Wirkung einer dahintersteckenden Ursache genommen und erklärt, sondern das Widerstehende selbst ist das Kräftige und die Kraft.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.91)

Das Widerstehende

Das Widerstehende ist die erste und nächste Gestalt, in der wir eine Kraft erfahren.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.91)

Αρχη μεταβολης: Ausgang sein für ein umsetzendes Her-stellen

Ertragsamkeit (Bildsamkeit und Brüchigkeit) und Widerständigkeit — beide als Weisen der δυναμις. Aristoteles will zeigen: εν γαρ τουτοις ενεστι πασι τοις οροις ο της πρωτης δυναμεως λογος (Θ 1, 1046 a 15 f.). Wir fragen uns: Welches ist demnach diese Grundbedeutung der πρωτη δυναμις, die in den genannten beiden schon liegen muß? Bisher wurde nur gesagt: αρχη μεταβολης — Von-wo-aus für den Umschlag; jetzt: von wo aus der Umschlag zugelassen, bzw. von wo aus ihm widerstanden wird. Darin liegt auch eine Beziehung auf Umschlag, so zwar, daß der erstgenannte Bezug (αρχη μεταβολης) schon mitgesetzt ist. Wie? Das kommt gerade rückläufig von dem jetzt angeführten Wesen der δυναμις her an den Tag. Denn das, was Ausgang ist für ein Widerstehen, das Widerstehende, ist in sich, von Hause aus — nicht beiläufig — bezogen auf ein gegen es Anlaufendes, auf solches, was ihm etwas antun, was an ihm etwas tun will und soll (ποιειν). Imgleichen: das Brüchige, das nicht standhält, verdirbt, ist dabei »ausgesetzt« — einem anderen, das an ihm arbeitet. Die δυναμις του παθειν hat einen in ihrer eigenen Verfassung gelegenen Bezug auf eine δυναμις του ποιειν, des Tuns. Und so wird deutlich: In der Leitbedeutung — αρχη μεταβολης — ist das Ausgangsein solches für ein ποιειν, ein Tun: das heißt: μεταβολη muß in aktivem Sinne verstanden werden: αρχη του ποιειν bzw. του ποιουμενου. Αρχη μεταβολης heißt also: Ausgang sein für ein umsetzendes Her-stellen, Her-vorbringen, Bei-bringen von etwas, heißt: Ausgang sein für die Her-gestelltheit, Bei-gebrachtheit.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.89)

Zwei δυναμεις

Zunächst also zwei δυναμεις: 1. η μεν δυναμις του παθειν — die Kraft, etwas zu erleiden von seiten eines anderen; 2. η δε εξις απαθειας της επι το χειρον — das Gehabe der Unduldsamkeit (Unleidigkeit) in Bezug auf einen Umschlag ins Schlechtere oder gar im Sinne der Vernichtung von seiten eines anderen.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.87)

μεταβολη aktiv verstanden

Wir können die Definition jedoch auch so verstehen: Ausgang eines Umschlags, welcher Ausgang in einem anderen ist; das εν αλλωι auf αρχη bezogen. Und dann muß μεταβολη nicht genommen werden als Umschlag im Sinne des bloßen vorsichgehenden Umschwungs (...), sondern in der Bedeutung die sie im Griechischen primär hat: Umsetzen (...); also in der »aktiven« Bedeutung.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.86)

Unmittelbarkeit der Kraft

Wie stellen wir eine Kraft fest? Es scheint, Kraft läßt sich nicht unmittelbar feststellen, nur »Wirkungen« lassen sich finden. Eine These, auf der z.B. auch Nietzsche seinen Willen zur Macht aufbaut und damit auf ein irriges Fundament gründet. Genauer besehen begegnen Wirkungen sowenig unmittelbar wie Kräfte; oder gleich unmittelbar.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.84-5)

Die größte Anmaßung

Es gilt demnach, bei der Aristotelischen Definition als einer vermeintlichen Trivialität auszuhalten und sie in ihrem Wesensgehalt aufzulockern. Wenn wir uns diese Forderung auch nur einen Augenblick wirklich klargemacht haben, sehen wir, daß Aristoteles, und so jede Philosophie, uns verschlossen bleibt, wenn wir sie nicht in Richtung auf ihre eigenen Ursprünge und Fragen überholen. Soll das geschehen, dann leuchtet das Anmäßliche unserer Aufgabe von selbst ein. Allerdings. Aber Philosophieren ist je auch nichts anderes als die größte Anmaßung, die das auf sich selbst gestellte Dasein des Menschen wagt.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.81-2)

Kraft ein Folgebegriff der Kausalität

(...) es bedarf keines Rückschlusses von der Wirkung auf eine Kraft, denn Wirkungen erfahren heißt schon: Kräften begegnen. Der Rückschlüsse, besser: der von der Wirkung im einzelnen zur Ursache zurücklaufenden Überlegungen und Fragen bedarf es erst und nur zur näheren Bestimmung der schon als vorfindlich gesetzten Ursache. Dann steht aber das Begegnende schon im Verhältnis von Ursache und Wirkung. Nur im Lichte dieses Verhältnisses der Kausalität, d.h. des Ursacheseins und Verursachtseins des Seienden finden wir seiende Kräfte und vermögen wir, Kräfte etwa zu messen. Kraft is sonach ein Folgebegriff der Kausalität (Kant, Kritik der reinen Vernunft A204, B249).

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.78-9)

Dimension der Kraft

Die Schwierigkeit der Wesenserfassung der unter dem Titel «Kraft» genannten Phänomene liegt nicht allein im eigenen Gehalt derselben, sondern mehr noch in der Unbestimmtheit und Ungreifbarkeit der Dimension, in der sie eigentlich beheimatet sind.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.77)

Leitbedeutung der δυναμις

Diese Leitbedeutung besagt (Θ 1, 1046 a 10f.): Ausgang sein für einen Umschlag, welcher Ausgang als solcher in einem anderen Seienden ist als das Umschlagende selbst, oder falls das ausgängliche Seiende und das Umschlagende dasselbe sind, sind sie das je in einer anderen Hinsicht. Δ 12 Anf. hat die Fassung: αρχη κινησεως η μεταβολης η εν ετερωι η ηι ετερον.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.68)

Begreifen der Grundfrage der Philosophie

Γ 3, 1005 b 29f.: αδυνατον αμα υπολαμβανειν τον αυτον ειναι και μη ειναι το αυτο — derselbe redende und verstehende Mensch als er selbst steht in der Unkraft, kann es nicht vertragen und zulassen, bezüglich ein und desselben Seienden zugleich vorwegzunehmen, es sei und sei nicht. Wer dieses αδυνατον von Grund aus versteht, das heißt: nicht so darüber herschwatzt, wie es die Logik und Dialektik bezüglich des sogenannten Satzes vom Widerspruch zu tun beliebt, der hat die Grundfrage der Philosophie begriffen.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.65-6)

δυναμις επι πλεον

(...) wenn wir diese ganze Bewegung zusehen und dabei vorhandene Tätigkeiten und Kräfte feststellen, dann blicken wir κατα κινησιν und nehmen so auch δυναμεισ wahr, solches, was mit dem Bewegten, in Bewegung Vorhandenen auch vorhanden ist. Wir blicken dabei aber nicht auf die Bewegung als Bewegung, nicht auf das κινουμενον ηι κινουμενον, wir fragen nicht, was das Bewegtseiende als solches sei; wir nehmen das κινουμενον nicht ηι ον und die κινησις nicht ηι ειναι. Wir handeln nicht κατα κινησεως, nicht so von der Bewegung, daß sie als solche Thema ist. Fragen wir so, dann fragen wir nach einem ειναι, nach einem Sein, und dabei auch nach δυναμις und ενεργεια, aber in einem ganz anderen Sinn (επι πλεον).

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.53-4)

Einheit des Seins und Einheit der Analogie

Die Einheit des Seins wird angesetzt als Einheit der Analogie. Diese Einheit des Horizontes und damit die Auslegung des Seins verschimmt im Dunkel. Denn: 1. ist das Wesen der Analogie nicht eigens geklärt. 2. Der analoge Charakter ist nicht aufgewiesen, sondern nur durch Analogie mit »gesund« u.ä. verdeutlicht; es ist nicht gezeigt, in welcher Weise das vierfach gegliederte Sein entsprechend zu einer herrschenden Leitbedeutung zu einen ist. 3. Nicht gezeigt ist, welche das unter den vier Bedeutungen ist. 4. Nicht gezeigt ist, warum das Sein vierfach gegliedert ist. 5. Nicht gezeigt ist, warum es die Einheit der Analogie haben muß; bzw. nicht gezeigt ist, weshalb es dafür nur den indirekten Beweis von Met. Β 3 geben kann. 6. Nicht gezeigt ist, daß und warum dieser Horizont des in sich analogen Seins notwendig der äußerste ist.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.52)

δυναμις

Και πρωτον περι δυναμεως η λεγεται μεν μαλιτα κυριως, ου μη χρησιμη γ' εστι προς ο βουλομεθα νυν. επι πλεον γαρ εστιν η δυναμις και η ενεργεια των μονον λεγομενων κατα κινησιν. αλλ' ειποντες περι ταυτης, εν τοις περι της ενεργειας διορισμοις δηλωσομεν και περι των αλλων. »Und zuerst (wollen wir handeln) über δυναμις in der Bedeutung, in der man meistens eigentlich das Wort gebraucht; freilich ist die so verstandene δυναμις wahrlich nicht brauchbar für das, was wir jetzt (in dieser Abhandlung) vorhaben. Denn die δυναμις und die ενεργεια (die eigentlich unser Thema sind) erstrecken sich über mehr als die entsprechende Ausdrücke, die nur im Hinblich auf Bewegung genommen werden.«

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.49)

πρωτη φιλοσοφια

Das erste und letzte πρωτον, προς ο τα αλλα λεγεται, was also die erste Bedeutung für das πολλαχως im weiteren Sinne sei, ist dunkel. Und deshalb ist die πρωτη φιλοσοφια, das eigentliche Philosophieren in sich selbst in einem radikalen Sinne fragwürdig. Das alles ist später beseitigt durch die These: Das Sein ist das Selbstverständlichste.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.47)

Aporie

Das ον hat zu seiner Vielfachheit die Einheit der Analogie.

Die Analogie des Seins — diese Bestimmung ist keine Lösung der Seinsfrage, ja nicht einmal eine wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung, sondern der Titel für die härteste Aporie, Ausweglosigkeit, in der das antike Philosophieren und damit alles nachfolgende bis heute eingemauert ist.

He***
(Aristoteles Metaphysik Θ 1-3, S.46)